Montag, 29. Oktober 2012

Hundertschaft

Demut! Der Boden der Tatsachen kann flauschig, ja regelrecht flokatihaft ausfallen. Ich habe eine 100-Jährige getroffen. 100 Jahre ... 100 Jahre! Das sind zehn unebene Jahrzehnte, die einem den Weg in die Zeitung ebnen. Bürgermeister kommen mit Blumen und gratulieren. Lokaljournalisten kommen und schreiben einen netten Text, in dem sie aber meist verschleiern müssen, dass der oder die 100-Jährige mehr oder weniger lebendig und im Dämmerzustand ist. Mit eben jener Erwartungshaltung spurte ich - noch ein "Jungs, ich muss, bevor die Gute nicht mehr ist" flötend, das mich jetzt massivst wurmt - zu meinem Auto und fahre zu einem der örtlichen Seniorenheime. Fünf Minuten zu spät, mindestens. Der Bürgermeister ist schon da. Ein paar Kinder der nahen Kita auch und singen ... ein Lied nach dem anderen ... und immer wieder. Die alte Dame grinst aber fröhlich vor sich hin. Ausgesungen. Bürgermeister und Journalist nehmen Platz. Ist immer ein wenig unangenehm, weil keiner so richtig weiß, ob er jetzt am Dämmerigen vorbeireden soll oder ob der noch Bewusstsein hat. Also das Immergleiche: Er wolle ja mal das Rezept für so ein langes Leben haben, fragt der Bürgermeister. Und die Grande Dame? "Nein, nein, das sage ich Ihnen nicht!" Sehr wach. Er fragt wieder, ich auch. Das alte Herz lässt sich erweichen. Herzhaft essen und nicht so viel Süßkram, das sei gut. Darum wird auch die von einer 100 gezierte Schokoladentorte abgelehnt. Dafür isst sie lieber eine Klappschnitte. Eine einfach in der Mitte zusammengefaltete Stulle. Das Wort ist nun neu in meinem Wortschatz und es wird da nicht mehr verschwinden. In den Kaffee könne aber ordentlich Zucker, meint die alte Dame. Und ganz wichtig: "Immer sagen, was man denkt!" Dieses alte Herz hat also nix zu lange geplagt, sondern sie hat es gleich in die Welt gepustet!

Wer knallzart recherchiert, erfährt auch was vom und aus dem Leben: Von Geburt an auf einem Auge blind, immer hart gearbeitet, kinderlose Ehe, Arbeit im Kinderheim, vor Jahren ging eine OP am gesunden Auge auch noch gründlich schief. Die Schwester starb früh, die alte Dame nahm sich ihrer Kinder an, die Nichte wurde Fast-Tochter. Ihr nähte sie das Hochzeitskleid. Ganz bewusst auf den letzten Drücker, weil schon das Baby unterwegs und der Bauch rundlich war ... in meinem Kopf läuft ein Film, in dem die zwei Frauen vor dem Anprobespiegel stehen und die Ältere der jungen Frau erst über die Wange und dann über den Bauch streichelt, die Finger auf den Mund presst und ein "pssst" lacht - in der Gewissheit, dass sich all das eigentlich schon längst nicht mehr verheimlichen lässt ... Und während meine Fantasie auf Hollywood-Reisen geht, schmunzelt die Grande Dame vielsagend über diese alte Geschichte und wendet ihr blindes Köpfchen zur Nichte und streichelt ihr den Arm, dass mir das Herz fast überläuft vor Rührung. Pure Liebe ...

... jäh durch tickende Uhr gestört ...

Termine, Termine warten ... der Bürgermeister musste schon gehen, ich jetzt auch. Am Anfang hat sich die Gute über die kalten Hände der Gratulanten beschwert, auch der rathausseitige Öffentlichkeitsarbeiter überzeugte die Dame nicht einmal beim Abschied mit Handwärme. Nun haben es die zwei Männer erneut versucht ... und ernteten wieder ein "Ach, kalt!" Kein Wunder: Die schönste Geschichte haben sie kaum mitbekommen. Meine Hand findet die Grande Dame nun akzeptabel warm. Es muss die Rührung sein, die noch nachheizt ...

Zusammenfassung für meinen Mann: Ich kann auch 100 werden!

UPDATE, 2. Februar 2014: Wie ich erfahren habe, ist die beschriebene Grande Dame Ende Januar gestorben. Im Alter von 101 Jahren.

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