Sonntag, 28. Juni 2015

Holy shit, mein erster Shitstorm

WARNUNG: Dieser Beitrag ist lang. Dieser Beitrag ist anders als sonstige Stücke von mir. 

 

Es ist nun knapp zwei Wochen her, dass ich meinen ersten echten Shitstorm erlebt habe. Klar, ich arbeite als Journalist - wer beruflich "austeilt", muss auch einstecken. Und kleinere Shitstörmchen gibt es immer mal, bei denen man sich harter und teils unsachlicher Kritik ausgesetzt sieht. Aber das war ein richtiger, das war großer Shit ... ich wurde anonym sogar als "Schlampe" bezeichnet ... und meine Kinderlosigkeit scheint in vielen kleinstädtischen Haushalten Thema gewesen zu sein und ist es vermutlich noch immer ...

Und fast wäre ich eingeknickt ...

Wie das? Was ist passiert? Hm. Eigentlich nicht viel. Ich habe nur meinen Job gemacht und einen Kommentar geschrieben. Bevor es - es ist nun mal ein Blog - eher subjektiv wird und meine ganz persönliche Aufarbeitung des Erlebten folgt, bemühe ich mich durch Wiedergabe eines Artikels um Objektivität. Ich muss weit ausholen und viel zitieren, damit man verstehen kann. Der folgende Artikel stammt aus der Feder eines Kollegen und war für mich die Grundlage des Kommentars, ich anonymisiere aber an einigen Stellen. 

Schulweg-Sorgen [...]
Straßen bergen hohes Gefahrenpotenzial für Kinder / Eltern fordern Ampel für mehr Sicherheit

Eltern [...] machen sich Sorgen um die Sicherheit ihrer Kinder auf dem Schulweg. Konkret geht es um die Strecke zwischen der Grundschule [...] und dem Hort in der Kindertagesstätte [...]. Zwischen der Bildungsstätte [...] liegen zwar nur ein paar Hundert Meter, doch die haben es in sich, so das Argument. „Die Kinder müssen nach dem Unterricht erst über die [...]-Straße, um zum Zebrastreifen zu kommen. Dort laufen sie über die [...] Straße und queren anschließend noch die [...]-Straße, weil der Fußweg endet“, schildert [...], deren Tochter aktuell die zweite Klasse besucht.
Um ihr Anliegen zu untermauern, organisierten mehrere Mütter vorige Woche zur Mittagszeit in Zusammenarbeit mit [...] vom Auto Club Europa eine Verkehrszählung. [...] bilanziert „erschreckende Zahlen“: “Über den Zebrastreifen in der [...] Straße rollten binnen zwei Stunden 486 Pkw, 7 Busse, 4 Lkw sowie 171 Radfahrer. Viele hielten trotz Kindern am Straßenrand nicht an.“ In der [...]-Straße wurden im gleichen Zeitraum insgesamt 235 Fahrzeuge dokumentiert, in der [...]-Straße 397."
Das Thema Wegesicherheit zwischen den beiden Einrichtungen existiert seit Jahren - aus mehreren Gründen gewinnt das Thema nun erneut an Fahrt. Zum einen steigt die Schülerzahl im [...] Osten. Im nächsten Schuljahr büffeln dort 52 Abc-Schützen, für das Folgejahr ist eine dreizügige erste Klassenstufe im Gespräch. Zum anderen entfällt nach Angaben der Stadtverwaltung die kommunale Bundesfreiwilligendienst-Stelle, mit der die Begleitung der Kinder zum Hort gewährleistet war. „Sie wurde nicht mehr genehmigt“, bedauert Oberbürgermeister [...]. „Wir haben uns an die Arbeitsagentur und den Bund gewandt, auf die Dringlichkeit aufmerksam gemacht. Ohne Erfolg.“ Darüber hinaus wurde die Kreuzung von[...]  und [...]-Straße 2012 als Unfallschwerpunkt eingestuft. Zwar gilt der Knoten inzwischen nicht mehr als auffällig und es waren auch keine Kollisionen mit Grundschülern, die die Unfallkommission des Landkreises auf den Plan riefen. Doch die geforderte Überkopfbeleuchtung des Fußgängerüberweges ist noch nicht installiert. Der Auftrag wurde kürzlich erteilt.
Den besorgten Eltern ist es nun wichtig, Lösungen für die Zukunft zu finden. „Am besten eine Ampel“, sagt Mutter [...]. Schulleiterin [...] möchte ab August eine Freiwilligen-Stelle mit einem Unter-25-Jährigen besetzen, weil es für diese Altersgruppe höhere Bewilligungschancen gibt. „Interessenten sollten sich jetzt melden“, ermuntert sie. Und verweist außerdem auf den nach wie vor stattfindenden Verkehrserziehungsunterricht in der ersten Klasse. „Im Übrigen achten alle Lehrer darauf, dass die Kinder nur in der Gruppe die Straße überqueren.“ Und der Kreisverband der [...] als Träger des Hortes ist ebenfalls tätig: „Wir konnten vier Ehrenamtliche gewinnen, die zunächst bis Jahresende für die Wegsicherheit sorgen“, berichtet Geschäftsführer [...].
Zur Kenntnis: Ich kenne die beschriebene Örtlichkeit und die Straßen bestens. Ich ging dort sogar selbst mal zur Schule. Ich war auch kürzlich vor Ort, als mein Kollege zu der Sache recherchierte. Ich kannte den Artikel. Ich kommentierte, hinreichend als Meinungsbeitrag gekennzeichnet, folgender Art:
Überbesorgte Helikopter-Eltern

Eltern sein, ist nicht leicht. So viel könnte (!) dem Nachwuchs zustoßen. Das war immer so, das wird auch immer so bleiben. Besorgt zu sein, ist okay. Über-besorgt zu sein nicht. Tatsächlich lassen
jetzt an der Grundschule [...] über-besorgte Eltern wegen eines nur wenige hundert Meter langen Fußweges die Alarmglocken schrillen, als müssten die Kinder eine Autobahn überqueren. Dass die Kreuzung am Zebrastreifen als Unfallschwerpunkt gilt, kann bei allem Verständnis für Elternsorgen keine Entschuldigung sein, es mit der Fürsorge zu übertreiben und ein Anspruchsdenken an den Tag zu legen, das von Panik geprägt scheint. Es ist ein Problem unserer Gesellschaft, für das schon der Begriff Helikopter-Eltern geprägt werden musste. Es gibt inzwischen eine Generation Eltern, bei denen das Behüten zur Bevormundung wird. Diese Bevormundung trifft alle und alles um das Kind herum. Es wächst obendrein der Anspruch, die Schule möge es doch bitte alles richten, jeden Schritt begleiten. Da macht die Schule Angebote wie Verkehrserziehung, die Kinder sollen sogar weiter Begleitung haben - ständig von Erwachsenen umgeben, wo bleibt denn da die Kindheit? Eltern sollten sich vergegenwärtigen, wie es bei ihnen - hoffentlich! - war: Man hat allein oder „nur“ mit Gleichaltrigen den Schulweg gemeistert. Beim wilden Toben holte man sich Schrammen. Man ist mal von einem Klettergerüst oder beim Klettern von einem Baum gefallen. Kinder hatten den Freiraum, fürs Leben zu lernen. Und wurden nicht verweichlicht.
Mir ist klar, dass dieser Kommentar polarisieren kann. Mir war beim Verfassen bereits klar, dass dieser Kommentar nicht überall auf Gegenliebe stoßen würde. Er erschien an einem Montag. Als ich nach Verfassen am Freitag davor die Redaktion verließ, sagte ich noch: "Wenn sich dazu jemand bei mir meldet, wird die erste Frage bestimmt sein, ob ich Kinder habe." Ich meinte das als Scherz. Mein Klischeedenken in dieser Sache wurde reich belohnt. Mit dem, was ab Montag bis zum Beginn der nächsten Woche folgte, hatte ich nicht gerechnet.

Reaktionen ...


Am Montag des Erscheinens gingen am Morgen die ersten Anrufe in der Redaktion beziehungsweise direkt auf meinem Apparat ein. Von der Sekretärin bekam ich eine Liste mit Nummern, die ich wohl besser mal zurückrufen sollte, weil die Leute erbost seien. Immer wieder klingelte das Telefon und ging es um den Kommentar. Ich kann und werde nicht alles wiedergeben, greife nur meine persönlichen "Highlights" heraus.

Wie die Frau, die mich anrief und nachdem ich mich gemeldet hatte, gleich folgende Worte für mich hatte: "Sie haben es noch nicht einmal zustande gebracht, ein Kind in die Welt zu setzen und schmieren so einen Dreck in die Zeitung!" Ich erklärte den Unterschied zwischen Bericht und Kommentar, wollte auf die Meinungsfreiheit zu sprechen kommen und ließ meine Kinderlosigkeit vollkommen aus, wurde aber abgebügelt. Unter anderem gab die Frau zum Besten, sie habe ihre Hausaufgaben über mich gemacht, ich sei "kalt kinderlos". Es werde einen Gesprächstermin mit dem Chef geben und dann "werden Sie schon sehen, was Sie davon haben." Wann immer ich verbal dazwischen gehen wollte, fiel sie mir aggressiv ins Wort. Als sie - für mich trotz des generell unsachlichen Gesprächs dennoch als i-Tüpfelchen überraschend - fragte, ob ich es denn lustig finden würde, wenn eines Tages ein Kind dort weggeschnappt und vergewaltigt würde, fing ich an zu erklären, dass dies ja nun nichts mit dem Zebrastreifen zu tun habe. Ich kam nicht zum Ausreden. Die Frau legte einfach auf.

Eine andere fragte, wie erwartet, ob ich Kinder habe. Als ich verneint hatte, ging es los. Dann dürfe ich mir nicht erlauben, über sowas zu schreiben und das sei "bösartiges Geschmiere" einer "kinderlosen Emanze". Sie sei sehr sauer auf mich. Sie werde ein Gespräch mit dem Chefredakteur vereinbaren und dann nütze mir mein "gutes" Aussehen auch nix mehr.

Es folgten bis in den Abend hinein Anrufe dieser aber auch sachlicherer Art. Außerhalb der Redaktionsräume leitete ich auf mein Handy um, damit die Kollegen damit nicht belästigt werden. Die Frage, ob ich Kinder habe, wurde mir allein an diesem Tage fast ein Dutzend Mal gestellt. Es folgte stets die Schlussfolgerung der erbosten Anrufer, ich dürfe daher nicht zum Themenfeld Kinder kommentieren. Bei einigen schien sich dagegen rumgespochen zu haben, dass ich kinderlos lebe und es wurde sofort als "Argument" gegen den Kommentar und die Meinungsfreiheit ins Felde geführt.

Als ich mein Leid kurz klagte, reagierte ein Freund sehr humorvoll: "Dann darf ich mich auch nicht über Tierquälerei im Zirkus aufregen?! Ich habe ja keinen Elefanten, oder wie?!"

Was Anrufe betrifft, schoss jene mir unbekannte weibliche Stimme eindeutig über das Ziel hinaus, die mit unterdrückter Nummer anrief und einfach nur "Schlampe" sagte - und dann auflegte.

Eine Frau überraschte mich dagegen. Diese Frau leitete ihre Rede mit der Vermutung ein, dass ich jetzt bestimmt viel verbale Prügel kassiere und sie dies nun als Anlass nimmt, mir zu sagen, was sie schon lange mal sagen wollte: Meine spitze Feder spreche ihr oft aus der Seele, ich solle mich nicht beirren lassen und mir gewiss sein, dass sie nur stellvertretend für viele andere Leser anrufe. Sie habe gelacht, als von Unfallschwerpunkt die Rede sei und sich sehr gefreut, dass ein richtiger Kommentar dazu verfasst wurde.

Auch ein Rentner bemühte sich in die Redaktion und wollte den Menschen sprechen, der diesen "Dreck" verfasst habe. Die Sekretärin vermutete es gehe um mich. Es stellte sich heraus, dass er den Artikel des Kollegen meinte. Dieser hätte, so der Senior, versäumt zu hinterfragen, dass die Hälfte der gezählten Autos garantiert Elternautos seien, da diese ihre Kinder ja am liebsten bis ins Klassenzimmer fahren würden.

Die angeforderten Gespräche mit den Chefs gab und gibt es nicht. Das Unternehmen steht hinter dem Kommentar beziehungsweise der Freiheit der Kommentatorin.

Mehr als 190 Kommentare ...

 

Im Internet, genauer Facebook, war der Kommentar ebenfalls Thema. Ein paar der besorgten Eltern machten mich über mein Profil ausfindig und schrieben mir private Nachrichten. Interessant waren Schriftsätze wie dieser:
"Es wäre schön gewesen, wenn sie es sich vielleicht vor Ort angeschaut hätten, bevor Sie so einen Kommentar neben unseren Artikel gesetzt hätten."
Aha. "Unseren" Artikel. Ich antwortete, obwohl ich wusste, dass ich es vermutlich nur noch schlimmer mache:

"Bitte nutzen Sie nach Möglichkeit nicht mein privates Facebookprofil dafür. Gerne rufe ich Sie morgen dazu an. Zum Verständnis aber: Es ist nicht Ihr Artikel. Es ist ein Artikel meines Kollegen und ein Artikel der [...]."
Es folgte ein Hin und Her. Sie sprach von schlimmsten Verkehrsverhältnissen. Ich sprach von Meinungsfreiheit. Sie meinte: 
"Nur noch eins, der Artikel wurde durch Herrn [...] an Herrn [... Anmerkung: sie meinte meinen Kollegen, schrieb diesen obendrein aber falsch] (phonetisch) gesendet. Er hat sich draußen die Infos die er dazu braucht raus genommen."
Das konnte ich wiederum nicht unkommentiert lassen. Asche auf mein Haupt, es ging auf 21 Uhr zu, ich war nach reichlichen Beschimpfungen sehr müde und konnte mich nicht mehr kontrollieren. So riet ich der Frau, ihr Verständnis von Presse- und Meinungsfreiheit zu überdenken. Als Antwort kam: 
"Wenn ich ihre Pressefreiheit angriffen hätte, dann hätte ich es öffentlich getan und nicht über auf diesen Weg. Man sollte auch auf diesem Weg Mensch bleiben."
Wenige Minuten darauf postete sie Artikel und Kommentar sowie ihre Verärgerung in einer rund 5000 Mitglieder starken Facebook-Gruppe, die unter dem Motto "Du bist ein echter [...] wenn..." den Lokalpatriotismus feiern möchte. Schnell reagierten die ersten besorgten Mütter und Väter. Ein paar Auszüge gebe ich hier. Ich kommentiere das nicht weiter, das spricht meistens alles für sich. Ich korrigiere auch keine Rechtschreibfehler.

Insgesamt gingen 192 Kommentare ein, bevor ein Moderator den Beitrag als "geschlossen" erklärte und jeden weiteren dazu löschen ließ. Es ist ein langes Hin und Her. Diejenigen, die pro meines Artikels posteten, fingen sich ihrerseits Sprüche ein. Mag sein, dass im Folgenden Zusammenhänge dieser "Diskussion" fehlen. Meist dreht sich die Sache aber im Kreise - so wie echte Helikopter kurz bevor sie abstürzen. Exemplarisch ein paar der "Kommentare" zum Kommentar wiedergegeben, zeigt sich der Charakter dieser "Diskussion" nach meiner Ansicht aber ausreichend:
"Dieser Journalist hat kein Kind was über diese Straße muß. Uns trifft es auch, ab August. Mein Gefühl ist auch mulmig"
 "Sie hat wahrscheinlich kein Kind um so was zu beurteilen ich platze gleich aber vor Wut , die Sicherheit der Kinder geht vor , nicht nur Ausländer , hallo Deutschland wir haben auch Kinder"
"Nein, wohl gemeinte Kritik ist gwünscht. Aber warum haben unsere Kinder nicht auch eine unbeschwerte Kindheit verdient? Warum müssen wir denn erst an die Öffentlichkeit und bekommen keine Handampel? Warum muss erst was passieren, damit endlich was passiert [...]"
"Halt stopp...Ausländer dahingestellt warum bekommen Ausländer einen Sicheren Fußweg vom Heim bis zur Stadt gebaut damit sie sicher unterwegs sind und unsere Kinder die es bestimmt schlimmer trifft die über eine vielbefahrene Strasse müssen wo selbst der Zebrastreifen ignoriert wird nicht mal ne Handampel....wo steht in unserem Staat kindeswohl gross geschrieben..."
"Wenn ich ehrlich bin geht es mir nicht nur um diese verkehrslage sondern auch darum das schon kinder auf dem weg zum hort von "notgeilen" leuten angesprochen werden..."
"In allererster Linie soll so ein Kommentar in einer Tageszeitung ja immer auch zur Diskussion anregen. Insofern hat in diesem Fall Christine Jakob einen perfekten Job gemacht. So ist dieses Thema voll im Gespräch und wird sicher auch von dem einen oder anderen potentiellen Entscheidungsträger gelesen. [...]"
"Erst einmal vielen Dank für diesen Artikel Christine Jacob. Wunderbar geschrieben. Den Finger, als gute Journalistin, in die richtige Wunde gelegt. Endlich ist wird auch Regional der Focus auf die Erziehungskatastrophe gesetzt!"
"Jetzt verfolge ich das wilde Geschreibsel schon eine geraume Zeit....... Kann jetzt bitte einmal ein Elternteil klar artikulieren und nicht nur Spekulationen und Anfeindungen darbieten?" 
"Hat sich mal jemand die Mühe gemacht, die Zahlen des "gewaltigen Verkehrsaufkommens" herunter zu rechnen? 486 PKW innerhalb zweier Stunden (plus 7 Busse plus 4 Lkw!!!) - Das sind in der Minute gerade einmal vier Fahrzeuge (also 2 pro Minute in jeder Richtung wohlgemerkt - okay: ich habe die 17 Fahrradfahrer vernachlässigt!). Und das bei einer Straße, die man ´nen halben Kilometer in jede Richtung einsehen kann. Ich will nicht polemisch werden. Aber hier scheint mir wirklich über-vorsorglich gedacht zu werden... [...]" 
Dass Menschen, oft mir vollkommen unbekannte Personen, auf meiner Seite waren, gab mir Kraft. Ja, meine Seite! Wenn andere keine Objektivität mehr walten lassen, wird es so subjektiv, dass Lager aufgemacht werden. Denn nicht nur die zum Teil sehr sehr persönlichen und auf Umwegen ausgeteilten Angriffe trafen mich. Ich würde eine Familie beschmutzen, hieß es da unter anderem. Man tat mir ganz persönlich weh.

Dass meine - übrigens ganz bewusst gewählte - Kinderlosigkeit dazu diente, mich in eine Ecke (Stichwort "kalt") zu stecken, war auf die Dauer und aufgrund der Vielzahl verletzend. Viel mehr schockiert mich, was dieser Shitstorm über unsere Gesellschaft, meine kleine Heimatstadt offenbarte. Da wären, um nur ein paar Aspekte zu nennen:
  • bedenkliches Verständnis von Presse und Pressefreiheit (beispielsweise: "unser" Artikel)
  • Alltags- und Rassismus generell (für "deutsche" Kinder)
  • das ungeprüfte Übernehmen einer Behauptung. Nirgends ist - zum Beispiel - bei dieser Facebook-Diskussion eindeutig bewiesen, dass ich tatsächlich kinderlos bin.
  • bedenkliche Einstellung von Frauen nach dem Motto "Ich habe ein Kind gemacht, ich bin also wie Gott und du hast gar nix zu sagen, weil du keine Kinder hast."
  • unsachliche Argumente und Beschimpfungen ("Schlampe", "Ihr gutes Aussehen wird Ihnen nix nützen", "Der Chef muss was mit Ihnen haben, wenn er auf Ihrer Seite ist.")
  • mangelnde Fähigkeit, Sachverhalte ansatzweise abstrakt und als Ganzes zu sehen

Wie hätte man den Kommentar gewertet, wenn ich ein Kind hätte? Wie hätte man den Kommentar gewertet, wenn ich ein Kind an besagter Grundschule hätte? Wie, wenn ich ein Kind hätte, das aber eine andere Grundschule besucht? Ich würde jetzt mal auf Vorwürfe wie "Rabenmutter" tippen ... Was wäre gewesen, hätte einer mal nachgefragt, warum ich keine Kinder habe und ich hätte meine Gründe ins Feld geführt? Und was wäre, wenn ich ein Mann wäre?

Und? Spielt alles keine Rolle ... Was würden sich nun aber diejenigen, die mich beziehungsweise meine Arbeit und Art missbillig(t)en, wundern ... Es gab da diesen einen Moment, da stiegen mir die Tränen in die Augen. Vor Wut, Enttäuschung, Schmerz, Übermüdung, Kraftlosigkeit, der "Schlampe" und dem sich im Kreise drehen und verteidigen müssen bei jedem Gespräch mit diesen Helikoptern und ihrer absurden Auftritte. Ich überlegte für den Bruchteil einer Sekunde, irgendwie zu Kreuze zu kriechen - obwohl ich mich im Recht fühle und nach wie vor 1000 Prozent hinter meinem Kommentar stehe. Ich tat es nicht. Ich kroch nicht. Ich richtete mich auf, schwellte stolz meine Brust und lächelte. "Jetzt erst recht!", sagte ich und halte gegen jeden weiteren Angriff - denn vereinzelt gibt es sie auch zwei Wochen "danach" noch. Wie das? Was ist (mit mir) passiert?

Ganz einfach: Ich, die "kalte kinderlose Schlampe", dachte in dieser seltsamen Sekunde der Schwäche an meine kleine Nichte und all das, was ich ihr vorleben und bedeuten möchte ...

Und so werde ich weitermachen!

Zeitungsente geht baden

Ich habe mich mal wieder zum Deppen gemacht. Ich mache das grundsätzlich seeeeeehr gerne. Nicht nur, dass ich vor reichlich zwei Jahren eine Jobserie für die lokale Zeitung ersonnen habe, bei der ich mich in verschiedensten Berufen ausprobiere und das Zugeben von eigenem Unvermögen gerne mal in Kauf nehme - ich schätze die Selbstversuche in jeder Lebenslage. Nach 2013 bin ich daher gestern wieder beim Schweinebrühtrogrennen - das heißt echt so - eines kleinen Dorfes an den Start gegangen, das es groß zu feiern versteht. Zwei Jahre vergehen - man könnte "leider" sagen - immer zwischen den Rennen ... das hat ja schon fast was olympisches.

Schweinebrühtrogrennen sind im besten Sinne vollkommen bekloppt, jedoch ein empfehlenswerter Spaß. Dieser Extremsport ist eine gute Möglichkeit, die Eleganz einer Quietscheente mit Blei im Hintern mit der geschwindigkeitssüchtigen Aerodynamik eines mit Wasser vollgesogenen Holzkastens zu verbinden, in dem man sich unter Garantie einen nassen Hintern und mitunter Splitter holt. Man durchkreuzt in diesem Gefährt und ausgestattet mit einem Paddel einen zirka 20 Grad warmen "See" voll Algen und Entengrütze, der einem im schlimmsten Falle des Reinfallens glatt bis zum Bauchnabel gehen könnte. Die Peinlichkeit des Plumpsens habe ich mir bei beiden Starts gespart. 2013 hatte mich eine Bekannte spontan gefragt, ob ich nicht mitmachen könne, weil sie auf der Suche nach einer Gegnerin war. In rasanten 3.47 Minuten schaffte ich es damals über den Dorfteich zu paddeln. 


Damals hatten der Bürgermeister und ich verabredet, dass wir das nächste Mal gegeneinander antreten. Haha. Es war, meinte ich, diese Art von "das müssen wir unbedingt mal machen"-Verabredungen, die ebenso leicht dahin gesagt wie schnell wieder vergessen und damit nicht ernst gemeint sind. Doch dann rief der Mann gestern meinen Namen und ich möge doch bitte an den Start kommen, falls ich das ernst gemeint habe - sonst könne er ja trocken bleiben. Kneifen wollte ich nicht und stieg erneut in den Kasten. In 2.53 Minuten meisterte der fast doppelt so alte Herr Bürgermeister das Rennen. Als der Mann im Begleitboot sagte "Mädchen, mach doch mal, ich will heem", wurde mir klar, dass ich wieder nicht auf Rekordjagd bin und unter Applaus den letzten Platz von einem Dutzend Startern - immer zwei gegeneinander, auch Kinder dabei - erreichen werde.  Immerhin: 3.24 Minuten. Ich sehe da eine Steigerung.



Schnaubend sprach der Bürgermeister, eine wahre Größe (2,02 Meter), danach ins Mikrofon: "Da sieht man mal wieder, dass sich die Zeitung für nichts zu schade ist." Naja ... für jeden Spaß bin ich zu haben. Das ist was anderes. Und ich bin ja nicht die Zeitung, ich mache nur welche. Ich schnaubte zurück: "Ich schreibe einfach, ich hätte gewonnen. Lügenpresse, Sie wissen schon!" Jetzt ist mir mein Berufsethos wieder eingefallen und ich gebe zu: Ich bin der schlechteste Schweinebrühtrogkapitän aller Zeiten. Aber das mit vollstem Vergnügen!

Donnerstag, 4. Juni 2015

Dürfen wir alles?

Der Presserat hat entschieden. Ich bin enttäuscht. 

Darüber:

"Der Co-Pilot des Germanwings-Flugs 4U9525 durfte nach Ansicht des Deutschen Presserats in den allermeisten Fällen benannt und abgebildet werden.  [...] Zunächst handelte es sich bei dem Germanwings-Unglück nach Ansicht des Presserats um eine außergewöhnlich schwere Tat, die in ihrer Art und Dimension einzigartig ist. Dies spricht für ein überwiegendes öffentliches Interesse an dem Fall insgesamt, jedoch könnte es auch Gründe geben, die dennoch eine Anonymisierung erfordern würden. So könnte z.B. durch die Nennung des Namens des Co-Piloten, seines Wohnortes und der Information, dass er auch im Elternhaus gelebt hat, die Identifizierung der Eltern ermöglicht werden. Aus Sicht des Presserats überwiegt jedoch in diesem außerordentlichen Fall das öffentliche Interesse an der Information über den Täter, soweit es die reine Nennung des Nachnamens betrifft. [...]"*

Zu diesem Ergebnis kamen die Beschwerdeausschüsse des Presserats übrigens nach "intensiven Beratungen" - sie dauerten zwei Tage - über die Beschwerden zur Berichterstattung. Insgesamt sprach der Deutsche Presserat nach eigener Aussage im Zusammenhang mit dem Germanwings-Unglück 2 öffentliche Rügen, 6 Missbilligungen und 9 Hinweise aus. Es lagen 50 Fälle mit 359 Beschwerden vor. Einige Beschwerden seien darüber hinaus nicht behandelt worden, weil sie "allgemeine Medienkritik betrafen oder sich gegen den Rundfunk richteten, für den der Presserat nicht zuständig ist". Insgesamt hatten laut Mitteilung des Presserats 430 Menschen die Berichterstattung beanstandet. Das sei die höchste Zahl an Beschwerden zu einem einzelnen Ereignis seit Gründung der Freiwilligen Selbstkontrolle der Presse. 

Ich könnte darüber meine Selbstkontrolle verlieren. Ich will und werde diesen ganzen Fall jetzt nicht wieder aufrollen. Aber ich möchte polternd und wütend loswerden: Mit Ruhm bekleckert hat sich in diesem Fall kaum ein Medium! 

Ich greife mal nur einen Aspekt von vielen raus, der mich besonders ärgert: In einer Zeit, wo scheinbar alle um unsere Branche herum und auch wir selbst unsere Boulevardisierung heiß diskutieren, (wir) sie uns attestieren und einige viele (angesichts dessen wohl zu recht) den Glauben an uns vollkommen verlieren - in genau so einem Moment haben fast alle Medien genau dies gemacht: Boulevardjournalismus! Richtig sensationsgieriegen Boulevardjournalismus. Und Funk und Fernsehen - ob sie nun Thema beim Presserat sind oder nicht, das ist mir gerade sowas von schnurz - haben bis hin sogar zu den angeblich so integren öffentlich-rechtlichen Instanzen auch noch mitgemacht, mit auf dem Boulevard gestanden... 

Es wäre doch die Gelegenheit für den Presserat gewesen, mal wieder ein paar Sachen in unserem moralischen Kompass zuverlässig in Richtung Norden auszurichten und uns allen eine Belehrung zu verpassen, die sich gewaschen hat ... uns an den Kodex zu erinnern ... zu zeigen, dass auch solch eine Dimension längst nicht unseren derzeitigen Kurs gestattet ...

Doch jetzt sagt unsere oberste "moralische" Instanz, dass es schon mal in Ordnung geht, den vollständigen Namen ohne große Überlegung zu nennen, ja?!? Es ist hinnehmbar, dass die Familie erkannt werden kann?!? Weil das Interesse so groß war?!? Das reicht als Grund, die journalistische Moral und Glaubwürdigkeit - wenn denn noch vorhanden - selbst mit schlechtem Beispiel voran mit Füßen zu treten?!? Echt jetzt?!? Für diesen Fehler bekommt keiner auf die Finger?!? Nicht mal ein bisschen?!?**

Übrigens nennt der Presserat den Co-Pilotennamen dann selbst nochmal. Als hätte man sich gedacht: "Naja, nun ist's auch wurscht." Die Abbildung von Opfern und deren Angehörigen sei jedoch in der Regel unzulässig gewesen, stellen sie fest. "Wenigstens das sehen sie ein", murmle ich da und geh noch eine Runde fluchen, wütend und enttäuscht*** ...

* Siehe am 4. Juni veröffentlichte Pressemitteilung. Auf der Homepage des Presserats könnt Ihr das "Urteil" komplett nachlesen. Es wird dort auf die Veröffentlichung von Opferfotos, der Freundin des Co-Piloten, eine Bild-Kolumne und die Frage der Vorverurteilung eingegangen.

** Ich habe für weniger schon mehr Ärger gekriegt.

*** Auch über die Presse im Allgemeinen.