Sonntag, 30. September 2018

Sprechstunde

Halb zieht er mich. Halb sink' ich hin. Dabei macht er wie so viele in letzter Zeit eine Bemerkung über meinen nicht gerade üppigen Körperbau. Er ist der erste Mensch seit langer Zeit, dem ich das nicht einen Hauch übel zu nehmen vermag. Vielleicht liegt es auch daran, dass seine große starke Hand noch immer meine kleine kalte hält und den Rest von mir auf ein Sofa dirigiert. 

Er hat mir Tee gekocht. Mit der Begründung, ich würde wie ein Teetrinker wirken. Ich bin ganz verzückt von so viel Aufmerksamkeit. Das Konzept "Dornenvögel" macht irgendwie plötzlich Sinn.

Eigentlich bin ich hier, um dem Pfarrer etliche Fragen zu einem Thema zu stellen. Er hat sich so gut auf diesen Termin vorbereitet, dass er - es wirkt spontan und ist es gewiss doch nicht - ein 30-minütiges Referat hält, an dessen Ende keine meiner Fragen offen bleibt und ich keine einzige gestellt habe. Seine sonore Stimme hat mich ganz und gar eingelullt. Ich möchte gar nicht mehr gehen.

Also gießt er mir noch eine Tasse Tee ein und lädt mich ein, zu bleiben und über Gott und die Welt zu reden. Er stellt mir interessante und interessierte Fragen, nur über mich. Das kenne ich nicht, sonst stelle ich die Fragen und schon gar nicht geht es nur um mich. 

Er weiß, dass ich Atheist bin und nennt mich doch einen sehr religiösen Menschen, erstens weil letztlich alle Menschen religiös seien und zweitens weil ich so auf mein Karma bedacht sei - dabei habe ich das Wort ihm gegenüber nicht einmal in den Mund genommen habe. Wir alle suchen und finden unsere Rituale, sagt er. Wir alle haben unsere Gebete, jeder auf seine Art, sagt er. Wir alle haben unsere Tempel, mit und ohne Dach, sagt er. Tatsächlich kommen wir überein, dass man es mit Faithless halten kann und Gott doch ein DJ ist. 

Beseelt gehe ich heim. Schade eigentlich, dass ich so lange nichts mit Religion am Hut hatte, denke ich. Und ahne doch, dass ich eine habe. Meine eben. Und er hat seine. Unfassbar, dass es deshalb immer wieder Mord und Totschlag gibt und ich könnte mit das Hirn zermartern, warum das so ist - oft genug tue ich das auch.

Wochen später treffe ich ihn bei einer Familienangelegenheit wieder und er sagt ganz unvermittelt: "Wenn Gott ein DJ ist, dann tanzen Sie besser über manche Dinge nach als sich den Kopf zu zerbrechen, okay!?" God Is A DJ und der Pfarrer ein Psychologe. Amen.