Montag, 24. September 2012

Kirschauge

"Warum eigentlich erzähle ich Ihnen das alles?", fragt die Frau. Staunt und blinzelt ... ein bisschen verwirrt, ein bisschen anerkennend. Gerade eben hat sie - ohne es zu merken, ohne es zu wollen, ohne es zu müssen - das Aus ihrer Ehe vor mir ausgebreitet. In allen Details. Mit all den Worten, die dazugehören. Einfach so. Passiert mir oft. Ohne merken, wollen ... vor allem aber, ohne es zu berechnen. Es müssen die großen braunen Augen sein. Die Augen, die meinen Opa einst dazu brachten, mich Kirschauge zu nennen. Ich kann Menschen in die Augen sehen. Dann erzählen sie mir einfach so Sachen.

Da saß nun also dieser Mann vor mir, der einen Suchttreff leitete. Um den Suchttreff sollte es eigentlich gehen, Allgemeines zu dem langweiligen Statistikkram, der Zahl der Beratungen im Jahr xy ... Statistikkram, hinter dem Menschen stecken. Da saß nun also dieser trockene Alkoholiker vor mir, der einen Suchttreff leitete und erzählte mir einfach alles. Breitete das ganze Leben vor mir aus, obwohl wir uns keine fünf Minuten kannten. Wie er schon als Kind und Jugendlicher Alkohol bekam, der Vater schlug und schimpfte. Wie normal das alles wurde, vor allem der Alkohol. Wie aggressiv er ohne war. Wie auch er schimpfte und schlug. Wie das die Ehe ins Aus trieb. Wie er trotz Alkohol Auto fuhr und gerade noch rechtzeitig von der Polizei gestoppt wurde. Das Angebot, doch selbst noch einmal vor Erscheinen des Artikels darüber zu lesen, schlug er aus. "Ich vertraue Ihnen, ändern Sie nur meinen Namen", hat er gesagt. Da kannten wir uns 50 Minuten und er wusste gar nichts weiter als meinen Namen über mich.

Da saß nun also diese Frau vor mir, die ihre Führungsposition gegen den Ruhestand tauschte. Klassischer Lokaltermin. Klassische Geschichte, in der gerne Floskeln wie "(Un)Ruhestand" oder "jetzt will sie sich mehr Zeit für ihre xx Enkel nehmen" vorkommen. Da saß nun also diese Frau vor mir, die gebrochen war und erzählte mir einfach alles. Bauchspeicheldrüsenkrebs, das hatte der Arzt gesagt. Zwei Tage vor Weihnachten. Sie informierte sich. Bauchspeicheldrüsenkrebs ist - sofern das überhaupt möglich ist - den größeren Arschlöchern unter all den Krebssorten zuzuordnen. Sie ließ Weihnachten vorbei und plante ihr Ende. Versicherungen, Testament, welches Kind bekommt was, was muss noch gesagt werden. Sie sagte es den Kindern und Enkeln. Der Arzt rief an. Fehldiagnose. Da saß nun also diese Frau vor mir, die bis vor wenigen Tagen dachte, dass sie sterben muss. Zu denken, dass man stirbt und es dann nicht zu tun, das sei grausamer als der echte Tod, sagte sie. Und weinte. Und ich weinte mit, weil ich verstand ... besser, als mir je lieb sein konnte. Ich verstand auch, als sie das nicht lesen und als unser Geheimnis wollte. Ganz gut ist man in diesem Job, wenn man Menschen - Menschen, die in erster Linie Menschen und nicht Politiker sind - dieses ewige "Das schreiben Sie aber nicht!" nicht nur gestattet, sondern es mitmacht. Selbst dann, wenn die Story besser mit dem ganzen Seelenauskotzen wäre. Ich schrieb also vom (Un)Ruhestand und den süßen Enkeln. Und es war gut.

Sonntag, 16. September 2012

Ich habe es wieder getan

Ooooh, I did it again. Ich war mal wieder bei einem dieser von mir so geschätzten Goldpaare zu Besuch. Sie hatten höflich über ihre Gemeinde angefragt, ob einer von der Zeitung zu ihrem Ehrentag kommen könne. Eigentlich hat der Chef die Maßgabe, nicht mehr die Gold-, sondern erst die mindestens Diamantpaare mit ihren 60 Ehejahren dürften mit Text und Bild ins Blatt. "Aber, wenn die uns einladen, kann man das schon mal machen", sagt der Chef. 

Also Anruf am Vortag, um die genaue Zeit zu besprechen. Der Goldene sagt "Aber nur, wenn Sie es einrichten können, werte Frau. Wegen uns müssen Sie nicht extra hier raus kommen!" Wie goldig! Sein Dorf ist zehn winzige Minütchen entfernt. Block, Stift und Kamera geschnappt. Tor und Tür des Hauses sind mit vielen 50s geschmückt. Stimmen im Garten, einfach reinspaziert - wir sind hier ja auf dem Dorf. Riesenfreude über die hoch verehrte Zeitung, vielen Dank fürs Erscheinen. Wie immer bei diesen Terminen wird der imaginäre rote Teppich ausgerollt: Kaffee? Milch? Zucker? Tee? Ein Schnittchen? Kuchen? Noch ein Kissen? Ist es zu frisch hier im Garten? Sie sehen so verfroren aus? Wir haben auch noch Glühwein! Gefülltes Ei? Ach, Sie lieben die? Soll ich noch welche bringen? Was einpacken? Warum nicht? Wo Sie doch noch Termine haben, greifen Sie doch zu! Sie wollen doch nicht vom Fleisch fallen, oder? Sie brauchen noch Kraft!

Neben all dem Kümmern erzählen sie ihre Geschichte: verliebt beim Kegeln, Antrag, Hochzeit, Kind, Haus. Er ist ein Jahr jünger. "Ich habe mir einen Jüngeren genommen, alt werden die Männer von allein", sagt sie. Aber bitte nicht in die Zeitung schreiben, sie ist doch sonst nicht so frech. Sie ist seit fast 40 Jahren bei der Feuerwehr, er seit 20. Die Kameraden kommen natürlich auch, ist doch klar. "Ein Foto vor dem Feuerwehrauto, können Sie das machen?", fragt die Güldene, warnt zugleich, dass sie und er nicht so fotogen sind. Foto (nicht so schick) und Text sind im Kasten, ab zum Auto, auf zum nächsten Termin. Sie kommt noch mit zur Tür. Und dann packt sie meine Hand und erzählt, dass sie bis vor zwei Tagen noch im Krankenhaus war, bitte nicht in die Zeitung ... aber das Herz! Die Aufregung wegen der Feier, die Aufregung vorm Ehrentag, ach und die vielen Jahre, es war ja auch nicht immer leicht, Höhen und Tiefen, einfach schwummerig sei ihr da geworden. Und dann steckt sie mir noch ein gefülltes Ei zu. Goldig, einfach goldig!

Montag, 10. September 2012

Volontöse

Volo, der, Abkürzung für Auszubildende im Journalismus, Kurzform für Volontariat
Volontöse, die, Bezeichnung ausschließlich für weibliche Auszubildende im Journalismus

Sie wollen dem journalistischen Nachwuchs auf die Sprünge helfen und ihm zeigen, wo es langgeht, damit er gleich begreift, dass es a) für Anfänger nix zu lachen gibt und b) Sie schon 20/30 Jahre mehr an Erfahrung auf dem Buckel haben?  Dann schlagen Sie dem weiblichen Volo doch vor, dass er Ihr Auto putzt, wenn er Sie streberhaft fragt, was er noch bei der Seitenproduktion helfen kann. Oder legen Sie dem weiblichen Volo die Wetterkarte zum Korrekturlesen hin. Sorgen Sie aber vor allem dafür, dass Sie den weiblichen Volo immer korrekt bezeichnen. Ihre Haltung zeigen Sie am deutlichsten mit dieser stets korrekten Bezeichnung des weiblichen Nachwuchses. Nur nicht zu viel Respekt, der muss erst verdient werden. Benutzen Sie die gewählte Bezeichnung so oft es nur geht und achten Sie überhaupt auf die Wahl Ihrer Worte. Es heißt nicht "Das könnte ja Frau Müller schreiben", "Wäre das nicht ein Thema für unsere Volontärin?" oder "Das Thema hat Frau Schmidt ganz gut umgesetzt". Es heißt: "Das kann ja die Volontöse machen", "Ist doch was für die Volontöse" oder "Das hat die Volontöse ja mal ganz gut gemacht". Und kaum etwas geht über den Klang eines langen Vo-loon-tööööse, das Sie - im Idealfall sind Sie selbst eine Frau - dem journalistischen Nachwuchs auf dem Flur nachbrüllen!

Dienstag, 4. September 2012

DienstLeistung

Erster Tag nach drei Wochen Büroabstinenz erledigt und erledigt (also ich). Abstand bringt, auch, Einsicht. Journalismus ist, auch, eine DienstLeistung. Der Kunde - Leser, Hörer, Zuschauer - will in erster Linie gut informiert und, auch, unterhalten werden. Der Kunde bezahlt dafür - Preis am Kiosk, Abo oder wenigstens die Rundfunkgebühr. Da darf er, auch, was erwarten. Die Macher schon weniger. Wer denkt, sich im Journalismus für alle Zeiten einen Namen machen zu können und den Menschen in seinem Verbreitungsgebiet ein Namhafter zu sein, der irrt. Meistens jedenfalls. 

Die wenigsten Menschen achten beim Lesen eines Artikels auf den Autorennamen. Beweisstücke a bis d: Die Oma meines Mannes fragt, obwohl ich in der Regel täglich einen Beitrag im Blatt habe, regelmäßig, ob ich eigentlich wirklich arbeite. Nicht selten begegnen mir Gesprächs- und Interviewpartner auch nach zwei Jahren Arbeit in meiner Redaktion und mehr als einjähriger Tragezeit meines Ehenamens (der Vorname blieb freilich gleich und einzigartig im hiesigen Mitarbeiterstab) auf meine Vorstellung mit der Frage, seit wann ich denn für diese Zeitung arbeite, weil sie sich jetzt gerade nicht so an meinen Namen erinnern könnten. Gemeinderäte nennen mich auch nach zwei Jahren noch "die junge Frau von der Zeitung" und nicht beim Namen. Ein Stadtrat mit eigenem Laden erkannte mich neulich beim Einkaufen in seinem Geschäft sehr wohl als die junge Frau von der Zeitung, die er ja gerade als Politiker besonders gründlich lesen sollte, behandelte mich demonstrativ zuvorkommend und hatte zu wirklich jeder einzelnen getrockneten Tomate aus seinem Delikatessengeschäft eine Erläuterung parat. Aber keinen Namen. Wohl sehr zu seiner Freude, aus zweierlei Hinsicht, musste ich den Großeinkaufsrausch mit EC-Karte bezahlen. Er nahm die Karte an sich, um sie im EC-Gerät einlesen zu lassen und studierte sie währenddessen, dabei ungelenk seine Hand verdrehend, ganz genau - um wenig später breit grinsend eine mit persönlicher Anrede versehene Abschiedsformel zu flöten. 

Merke: Die wenigsten Menschen achten auf die Autorennamen oder lesen beim Auftauchen eines bestimmten Namens erst recht. Beweisstück e: Ein anderer Stadtrat gestand mir kürzlich, dass er immer speziell nach meinem Namen suche, weil ihm das Lesen meiner Texte so viel Spaß mache, mein Stil erfrischend sei, ich immer Einsatz beweisen und interessante Themen anbieten würde. Das ist aber eher die Ausnahme, das Leseverhalten eines engagierten Kommunalpolitikers wohl nicht repräsentativ für das Leseverhalten der meisten ottonormalen Menschen. Sie lesen und speichern den Inhalt ab und nicht den Macher. Das ist, der Eitelkeit der meisten Journalisten widerstrebend, aber vollkommen in Ordnung. Genauso wenig, wie unsereins sich den Namen der Supermarktkassiererin merkt, die übrigens ein Namensschild trägt, merken sich unsere Kunden unsere Namen. Warum auch? Hauptsache, die Leistung stimmt.

Auf Wiedersehen!

Die Journalistikstudenten an einer der ältesten Universitäten Deutschlands absolvieren, vergleichbar am ehesten mit dem Arzt im Praktikum, ein Volontariat.  Eigentlich ein Job wie jeder anderer. Vorher wird geredet. In Gruppen mit mehreren Kandidaten. Bewerbungsgespräche in Gruppen sind ... eine gute Sache für die, die gerade Volontäre einstellen und sich dabei Zeit sparen wollen. Bewerbungsgespräche in Gruppen sind ... eine Qual für die, die am Ende des Tisches sitzen muss. 

Eine Personalerin, ein Redakteur mit Sonderaufgaben (Volontärsbetreuung) und ein Chefredakteur sitzen mit einem männlichen Journalistikstudenten, noch einem männlichen Journalistikstudenten und einem weiblichen Journalistikstudenten an einem Tisch und reden. Was klingt wie der Beginn eines Witzes ist ... nur bedingt zum Lachen geeignet. Die drei Fragezeichen sind die dritte Gruppe an diesem tristgrauen Novembernachmittag. Kandidat eins hat sich in einen Anzug gestopft und eine schwarze Aktenmappe bei sich, sein Aftershave kitzelt ein wenig aufdringlich in der Nase. Kandidat zwei ist der Junge von nebenan mit dem gewissen Etwas zum Pferdestehlen, leger und doch schick gekleidet. Kandidat drei hat sich beim Friseur vorgestern noch einen Bob schneiden lassen, trägt einen schwarzen Rollkragenpullover zur dunkelgrauen Hose und eine noch fast neue Lederjacke. Hinsetzen. Es geht los. Nach der dritten Frage, das allgemeine Geplänkel zu den mit Anfang 20 noch recht überschaubaren Biografien hat der Chefredakteur schnell hinter sich gelassen, dämmert Kandidat drei, dass das Immer-der-Reihe-nach immer der Reihe nach immer so weiter gehen wird. Erst eins, dann zwei, dann drei ... zur Lage der Nation, Obamas Wahlkampf, Bankenkrise, Bundeskanzlerin, wer ist eigentlich derzeit Ministerpräsident von NRW, welcher Partei gehört der schleswig-holsteinische Amtskollege an, wieso eigentlich Journalist werden ... eins, zwei, drei ... eins, zwei, drei

Eins redet viel und, das muss neidlos anerkannt werden, ganz passabel. Eins zitiert aus Leitmedien. Eins weiß Bescheid. Eins redet wirklich ziemlich viel. Eins hört sich dabei auch gerne selbst zu. Aus eins könnte echt was werden in dieser Welt, denkt sich drei. Zwei wohl auch. Zwei fällt eins irgendwann mit rotem Kopf, vielleicht überrascht von der eigenen Courage, ins Wort. Mit zwei könnte drei echt mal ein Bierchen trinken gehen, denkt sich drei, wenn zwei nicht Konkurrent von drei wäre. Drei ist immer ganz am Ende dran. Eins und zwei haben dann eigentlich schon alles gesagt. Drei muss ganz tief im Kopf graben, mit anderen Worten die Worte der anderen wiederholen ... oder widersprechen. Sich die Konzeption einer Sonderseite zu den Bauverzögerungen der teuren regionalen Bahnstrecke sollen sich die Kandidaten zum Schluss ausdenken. Aber nicht im Team ... eins, zwei, drei. Zwei fallen die drei Sachen ein, die eins noch nicht vorgeschlagen hat. Drei findet, eingeleitet von einem breiten Ähm sogar noch was und stößt beim Graben im Kopf auf eine wie Reizhusten auszustoßende Idee: Vielleicht ein paar der Sachen streichen, damit es am Ende nicht drei Sonderseiten werden, wie wäre denn das, nur mal so, theoretisch? Schweigen. Chefredakteur grinst schief. Ein paar Sachen müsste man streichen, damit es nicht drei Sonderseiten werden, sagt er selbstzufrieden. Zeit ist um. Eins, zwei, drei ... müssen jetzt gehen. Eins sagt "Tschüss", zwei sagt "Tschüss", drei sagt mit plötzlich keimendem Selbstbewusstsein "Auf Wiedersehen". Klappt. Einen Tag später bekommt drei den Anruf, dass sie dabei ist. Zwei auch. Eins nicht. 

Dies ist auch der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Zwei und drei gehen noch Jahre später immer mal wieder ein, zwei Bierchen miteinander trinken.

Montag, 3. September 2012

Crossmediale Oma

Irgendwann ist man alt genug, um auf seine Eltern zu hören. Meine Mutter sagt, dass ich abends doch auch mal die Oma anrufen soll. Die ist nämlich, sonst verwitwetes Großmütterchen mit lebenslangem Wohnrecht im Hause ihrer zweiten Tochter, gerade ganz allein im Riesendomizil und braucht Gesellschaft, und sei sie auch nur telefonisch. So ein Anruf, sagt die Oma, sei eine sehr schöne Abwechslung - und ich schäme mich ein bisschen, das ich sie nicht einfach mal besuchen fahre. Sonst dümpelt ihr langes Leben wohl eher gemächlich wie das Minidorf, in dem sie lebt, vor sich hin. Weg kann sie nicht, da spielen die alten Knochen nicht mit. Aber genauso zuverlässig wie der fahrende Händler, der mit Butter, Brot und von Zeit zu Zeit Kirschkuchen versorgt, kommt die Welt zur Oma. In Form von Tageszeitung, Radio und Fernsehen. Medien, sagt die Oma, seien wichtig, auch für die Meinungsbildung. Ja, mit so Begrifflichkeiten kennt sie sich aus. Nicht nur die anrufende, sondern auch die andere Enkeltochter macht was mit Medien. Meine Cousine ist inzwischen als (Polen)Korrespondentin für den NDR im Einsatz - wenn auch nicht als eine, die immer mal mit dem Mikro und vor einem wichtigen Gebäude die Welt erklärend vor der Kamera auftaucht, sondern eher hinter den Kulissen und als Autorenname über den Bildschirm huschend. Ihr Medienverhalten hat die Großmutter nicht großartig geändert; gelesen, gehört und gesehen wird wie immer. Aber taucht der Name der einen Enkeltochter im TV auf, freut sie sich und erzählt Anrufern wie mir von dem Bericht. Da meine Oma am anderen Ende des Verbreitungsgebiets meiner arbeitgebenden Zeitung wohnt, taucht in ihrer Lokalausgabe hin und wieder auch mein Name im überregionalen Teil ihrer Zeitung auf. Dann schneidet meine Oma den Bericht aus und erzählt anderen Anrufern davon. Ansonsten wird nicht viel Aufhebens darum gemacht.

Jeden Tag wird seit Urzeiten Zeitung gelesen - von vorne bis hinten, gründlich und nur minimal auswählend. Im Gegensatz zu vielen Senioren, die viele meiner Kollegen traditionell als ihre wichtigste Zielgruppe verstehen, wird nicht bloß der Lokalteil und die Seite mit den Rätseln aus dem Papierstapel genommen. Politik, Wirtschaft, Kultur gehören bei Oma ebenso zur täglichen Lektüre. Ist das erledigt, dreht Oma das Radio an, manchmal aber auch parallel dazu. Aber bloß kein Duddel-Sender, die nerven einen nur, wie sie sagt. Am liebsten hört sie Deutschlandfunk. "Da bekommt man schon mit, was sonst noch wichtig ist", sagt die alte Dame. Festspiele in Bayreuth, Krise in Syrien, US-Wahlkampf? Oma kennt sich aus. Bestens. Am Abend ist dann Zeit fürs Fernsehen. Nachrichten werden bei ihr öffentlich-rechtlich konsumiert. Von RTL, sagt sie, hält sie nicht so viel, ob die nun Nachrichten haben oder nicht. Sie lese zwar immer wieder in der Zeitung, dass das der meistgesehene Sender ist, aber die Tagesschau müsse es schon sein, man ist ja auch daran gewöhnt. Darum hat sie nicht ohne Stolz ein Bild von Jan Hofer auf ihrer Anrichte stehen, das die andere Enkeltochter in Zeiten des NDR-Volontariats mit einem Autogramm geadelt hatte und mein Mann bei einem Besuch aus Versehen für ein Porträt meines jung gestorbenen Opas hielt - nicht geklärt ist die Frage, warum er meinte, mein Opa hätte sich selbst signieren sollen. Im Anschluss an die Nachrichten will Oma aber keine Krimis sehen, dann kann sie nicht ruhig schlafen, lieber sieht sie eine Doku zur Geschichte Mitteldeutschlands oder auch mal was Seichtes und studiert dazu die Fernsehzeitung, um die nächsten Tage auszuloten - "Immer nur Ernst macht ja keine Freude." Kommt gar nichts nach ihrem Geschmack, bleibt die Kiste aus und Oma greift zum Buch. Dabei gilt: Rosamunde Pilcher gucken ist okay, Rosamunde Pilcher lesen aber nicht.

Nicht ohne Stolz erhebt sich Oma so mit ihrem gesamten Verhalten über ihre Bekannte, die lieber dauerhaft den Fernseher laufen lässt und ohne ihre seichten Serien gar nicht sein kann. Noch heute kann Oma nur den Kopf schütteln über die Reise, die sie mal mit dieser Bekannten gemacht hat. Kaum hatte der Bus das Hotel erreicht, stürmte die schon aufs Zimmer und zum Empfangsgerät, um sich eine x-beliebige Telenovela einzuverleiben. Oma, so erzählt sie jedenfalls, ging demonstrativ auf den Balkon, bat ums Runterregeln der Lautstärke und griff sich ein Buch. Von Sachen wie Bayreuth, Syrien oder Demokraten und Republikanern habe die Bekannte, da ist sich Oma ziemlich sicher, noch nie was gehört oder es schon längst verdrängt. Dafür kenne sie sämtliche Handlungsstränge von Sturm der Liebe besser als die Biografien vieler Verwandter. Das, sagt Oma, sei aber doch nicht der Sinn des Fernsehens. Jetzt aber, sagt sie, müsse sie langsam Schluss machen, das Abendessen hätte sie wegen mir schon unterbrochen und bald beginne die Tagesschau.

26.46 Minuten Gesellschaft stehen am Ende auf der Telefonuhr.

Samstag, 1. September 2012

Strahlend schön

Zu dumm aber auch. Nicht jede gute Idee zur Verbesserung der Welt oder Laune kann es in eine Zeitung schaffen. Diese hier zum Beispiel.

Vor den Toren der Millionenstadt steht ein Kraftwerk, das gut und gerne eine - zumindest dem äußeren Erscheinen nach - Keksfabrik sein könnte. In Wirklichkeit wurde dort lange Zeit Atomstrom produziert. Nun ist der Ausstieg beschlossene Sache und die Keksfabrik damit beschäftigt, sich teuer selbst zu zerfressen. Ein paar Meter weiter, der Blick darf weit über die Landschaft schweifen, steht ein rundes Häuschen, in dem sich der geneigte Besucher bisher noch über die Herstellung von Keksen informieren kann. Braucht auch kein Mensch mehr, könnte gut und gerne verkauft und, jetzt spinnen wir mal ein wenig elektrogesmogt herum, zum Restaurant gemacht werden. Kreisrund sitzen die Gäste darin und alles Essen ist, natürlich und es darf doch auch gerne ein Bisschen mehr sein, XXL. Serviert wird nicht von Kellnern, nein. Serviert wird von einer Eisenbahn, die gemächlich ihre Kreisrunden durchs Lokal zieht und beschützt durch plasteline Bundespolizisten die Speisen herumtuckert. Zuweilen muss etwas länger als in anderen Lokalen aufs Essen gewartet werden. Gelegentlich werfen sich nämlich grüne Protestler aufs Gleis und verhindern die Auslieferung des im Minicastor servierten Schnitzels (XXL). Derweil kann man aber die Riesenpommes schon einmal genüsslich ins Mayo-Endlagerfässchen tunken. Lecker!