Donnerstag, 24. Dezember 2015

Alle Jahre wieder

Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern, beliebt eine Kollegin mantra-artig zu wiederholen. Damit, glaube ich, rechtfertigt sie auch ein bisschen, dass sich im Journalismus und auch im Lokaljournalismus bestimmte Dinge wieder und wieder wiederholen ... warum auch nicht? Wenn's gut ist? Oder zumindest gut gemeint. Es ist also an der Zeit für meinen traditionellen Weihnachtspost-Post:

Wie schon in den Vorjahren lassen Welt- und Wetterlage kaum vermuten, dass Heiligabend ist. Ist aber so. Es ist anzunehmen, dass ich aus diesem Grund einige Geschenke überreicht bekommen werde... Aber das brauche ich eigentlich nicht, denn ich bin schon mehr als reich beschenkt: mit einer wunderbaren Familie und wahren Freunden (der Freuamilie). Dass ich bin wie ich bin, ist das Werk unfassbar toller Eltern. Mein kleiner Bruder ist wie mein bester Freund. Mein bester Freund ist wie mein vierter Bruder. Ich bin eine von den Jungs. Ich lerne - auch durch meinen Job - jeden Tag fürs Leben. Und ich bin reich beschenkt mit vielen Lesern, die nicht einfach nur konsumieren, sondern reagieren - kritisch und konstruktiv.

Also wiederhole ich mich genau wie 2014, 2013 und 2012: Ich danke Euch! Fürs Lesen. Hier und in der Zeitung. Ich danke für Anregungen, Tipps und Vorschläge. Danke für Eure Begleitung auf dem Jacobsweg ... mit all seinen Umwegen, Abbiegungen, Stolperfallen, den schnellen und langsamen Passagen, mit seiner Geradlinigkeit und dem manchmal schlechten Orientierungssinn, vielen Dank für Kompass und Karte, das Anfeuern, Wegweiser und die Stoppschilder. DANKE!!!

Alle Jahre wieder: textile Botschaft!


Dienstag, 1. Dezember 2015

High Five

Heute bin ich auf den Tag genau fünf Jahre als Journalistin für die lokale Tageszeitung meiner Heimatstadt tätig. Im Geschäft bin ich - vom ersten Praktikum und über das Volontariat gerechnet - schon seit 15 Jahren. Journalist werden wollte ich schon mit zehn. Ein bisschen Journalistik studiert habe ich auch (steht alles in der Vita). Vor allem die vergangenen fünf Jahre haben mich viel gelehrt, - auch über mich - hier mal eine kleine Auswahl:

Feuill-e-ach-was...

Obwohl ich unbedingt "was mit Medien" machen wollte, habe nicht direkt Journalistik studiert, sondern meinen Magister in Literaturwissenschaften und dann später ein Volontariat gemacht. Ich glaubte mit Anfang meiner 20er-Jahre nämlich noch, dass ich eines Tages im Feuilleton arbeiten werde. Meinen beruflichen Alltag als Journalist stellte ich mir ungefähr so vor: eine Menge Kaffee und Tee trinken, jeden Tag Bücher lesen und darüber und über sie schreiben, Theater- und sonstige Vorstellungen besuchen und diese rezensieren, nach intensivem Konsum TV-Kritiken verfassen. Künstler aller Art treffen, Ausstellunngen besuchen. Kurzum: Geld mit dem verdienen, was andere Freizeit nennen würden. 
Heute kann ich mir das nicht mehr vorstellen. So spannend Kultur auch ist, so stelle ich mir diesen Arbeitsalltag für mich doch als zu wenig abwechslungsreich und zu verkopft dar. Nicht erst seit heute bin ich stolz, Lokaljournalist zu sein. Ich bin Generalist. Böse Zungen behaupten über Lokaljournalisten, sie könnten nichts richtig. Also ich kann ein richtig guter Journalist sein. Und als solcher schreibe ich zwischen vielen anderen Dingen sogar über Kultur und rezensiere. Und dann überschneiden sich Beruf und Freizeit oft genug. Gut so!

Die Kirche im Dorf lassen...

Ich war sieben oder acht Jahre alt, meine beste Freundin ging in die Christenlehre und manchmal erzählte sie mir davon, wenn wir uns nach der Grundschule zum Spielen trafen. Wenn ich dann abends ins Wohnzimmer linste, wo meine Eltern die Nachrichten sahen, sah ich Bilder von Krieg und Hunger auf der Welt. Ich beschloss, dass es keinen Gott geben kann. Fortan wusste ich mit Religion und Kirche nichts anzufangen. Was auch immer ich von dort hörte, kam mir mindestens altbacken und überholt vor. Und verzichtbar.
Ich glaube noch immer nicht an Gott. Aber ich glaube, dass die Kirche wichtig ist. Gerade im ländlichen Raum. In den vergangenen fünf habe ich eine Menge toller Pfarrer kennenlernen dürfen. Ich habe erlebt, wie Jugendarbeit bei der Kirche aussieht und dass manche junge Band keinen Probenraum hätte, wäre da nicht das Gemeindehaus. Ich habe gesehen, wie viel unabhängig von Glaubensbekenntnissen für Kinder, Senioren und Behinderte getan wird - und sei es nur durch das Zuhören und sich Zeit nehmen, das andernorts nicht mehr oder kaum stattfindet. In den vergangenen Monaten habe ich gesehen, wie sich Kirchenvertreter für Flüchtlinge engagieren. Ich habe für mich erkannt, dass es ohne die Kirche nicht geht.

Action, bitte

Mir war klar, dass der Job des Journalisten nicht Nine to Five mit geregelten Arbeitszeiten funktioniert.  Aber zum Großteil, hoffte ich sogar noch, kann man sich darauf einstellen, dass es alles planbar ist. Und wenn mal eine Sache wie der abendliche Termin länger dauert, kann man sich ja darauf einstellen und am nächsten Tag später ins Büro. Alles läuft in geregelten Bahnen und Pläne umschmeißen muss man nicht. Dienst nach Vorschrift ist möglich und am Anfang eines Tages weiß man, was er bringt.
Ich habe gelernt: Es ist auch im Journalismus Vieles gut planbar. Man kann den Job zwar nicht immer aber meist sogar als Nine to Five, naja eher Six begehen. Muss man aber nicht. Zum Glück. Scheiß auf "Dienst nach Vorschrift". Ich mag Freizeit, ich habe gerne Zeit für mich, meine Familie und Freunde. Ich komme aber sehr gut damit klar, wenn meine Planungen in Sekunden über den Haufen geworfen werden. Ich stehe auf Action. Wollte ich früher (siehe oben) meine Spezialisierung in Richtung Feuilleton vorantreiben und ein bequemes oft couchbasiertes Leben führen, rutsche ich seit mindestens drei Jahren ins Blaulichtmilieu ab und stelle fest: Ich funktioniere unter dieser Art Stress besonders gut, ich bin inzwischen routiniert. Ich stehe gerne auf der Straße, ein Haufen Kerle um mich und mache Arbeit, die sonst nicht jeder machen will. Blaulicht und Martinshorn. Wenn die Sirenen gehen, schießt mir das Adrenalin in die Adern - und ich mag das. Wann immer was im Blaulichtmilieu passiert, versuche ich dabei zu sein (lest hier) und es möglichst schnell als Nachricht online zu veröffentlichen. Und das Beste: Alle meine Lieben haben Verständnis dafür. Mein Papa würde sagen: "Da machste wenigstens keinen anderen Blödsinn."

Was bewegen...

Einfach mal einen netten Artikel schreiben, den Lesern eine nette Zeit bereiten und das war es dann. So in  etwa stellte ich mir das vor. Es versendet sich alles, hatte ich beim Radio gelernt, und irgendwie war mir diese nicht vorhandene Nachhaltigkeit und Wirkung von Journalismus auch über weiteste Strecken ganz recht. 
Heute weiß ich, wie viel Einfluss meine Arbeit beziehungsweise wie viel Einfluss ich haben kann. Und das setze ich bewusst ein. Es nervt mich, wenn ich so rein gar nichts bewirke und erreiche. Mein Ziel ist es, zumindest meine kleine lokale Welt ein bisschen besser zu machen. Indem ich über Missstände berichte, Politik transparenter mache, Diskussionen anstoße, den Finger in Wunden lege, Anregungen gebe, Leuten den Spiegel vorhalte. So habe ich schon manches erreicht - unter anderem Verbesserungen für Menschen mit Behinderung, weil ich immer wieder gebohrt habe. So regte ich in der Verwaltung zum Nachdenken und Umsetzen neuer Ideen wie der eines sogenannten Treppensteigers für das bis dahin nicht zugängliche Museum in meiner Heimatstadt an. Der Treppensteiger ist natürlich nicht allein auf meinem Mist gewachsen, aber ich habe - und darauf bin ich wirklich stolz - dazu beigetragen, dass er beschafft wurde. Aber auch indem ich den Lesern einfach mal eine nette Zeit beim Lesen bereite, bewege ich ein wenig. So habe ich zum Beispiel eine Jobserie im Blatt, in der ich in der Ich-Perspektive über meine Selbsterfahrungswerte anderer Berufe (Müllfahrer, Tierpfleger, Kindergärtner, Sekretärin, Straßenwart ...) schreibe. Die Botschaft, immer wieder: Respekt!

Heller-Moment

Dienst ist Dienst. Und Schnaps ist Schnaps. Nun ja. So einfach zu trennen ist das nicht. Eine Frau, mit der ich aufgrund ihrer Pressesprecher-Funktion eigentlich nicht so dicke sein sollte, erzählte mir diverse Male, dass ich der "Kommissarin Heller" vom ZDF ähnlich sei. Die vierte Folge habe ich mir dann mal in der Mediathek reingezogen. Mit diesem Ziel: die Sprüche der Freundin durch fundierte Gegenrede abwehren. Dann besorgte ich mir auch die anderen Episoden und schaute die.
Ich sah (es ein): Heller ist der Typ Kumpel. Vielleicht nicht mal das. Spröde irgendwie, manchmal unterkühlt. Ein Arbeitstier bis an die Grenzen der Selbstausbeutung, fähig über die Grenzen zu gehen. Verheiratet mit ihren Beruf, ihrer Berufung. Eine, die schnell alles checkt und den Durchblick hat und der Dinge auffallen, die sonst keiner sieht. Intuitiv und nicht gefühlsduselig. Taff, selbstbestimmt - und doch seelisch irgendwie angeschlagen. Verzieht oft keine Miene, dann sagen ihre Augen manchmal auch wieder alles. Trotzkopf. Ein bisschen androgyn vielleicht. Charismatisch. Witzig. Sie erinnere manchmal an Schimanski, meint sogar eine Autorin im Feuilleton der Welt. Wenn Heller in ihre Wohnung kommt, will die Ruhe im Karton und kein Gesülze, weil sie sich eh Arbeit mit nach Hause genommen hat. Männer? Klar. Für ein paar nette Nächte - aber sobald das Diskutieren und Rumnörgeln über ihren Job und ihre Art losgeht, ist Schluss mit lustig.
"Ich habe keine Ahnung, wo zum Henker da eine Ähnlichkeit mit mir zu erkennen sein soll" ... gab ich mich mit mir selbst murmelnd selbstironisch, als ich "Kommissarin Heller" in ihrer ganzen Wucht sah. In "Schattenriss" zum Beispiel wird sie nach kurzer Nacht in einer Gruppe Angestellter und Kunden von Bankräubern entführt und als Geisel gehalten. Es gelingt ihr lange, ihre Identität als Polizistin zu verheimlichen. Dann wird sie enttarnt. Die Geiselnehmer halten ihr eine Knarre an den Kopf und fragen, ob sie ihren Job mag. "Ja, ich mag meinen Job", schluchzt sie kurz auf. Ich glaub, sie wutheult ein bisschen. "Es ist das einzige, was ich kann", sagt sie mit Tränen in den Augen. "Ach Mensch, ich weiß", möchte ich ihr auf die Schulter klopfen. Ich weiß, wie das ist. Denn sie meint eigentlich: Ich kann nicht anders. Ich kann nichts anderes sein.

Sonntag, 15. November 2015

Abstumpfen

Ich stand heute am Rande eines Verkehrsunfalls. Jetzt stehe ich kurz neben mir und frage mich, was mit mir ist. Was ist mit mir passiert? Wann hat das alles angefangen? Warum bin ich so kühl? Oder bin ich nur professioneller geworden? Und: Ist das schlecht? Oder gerade gut?

Verkehrsunfälle, Brände, Suizid auf der Bahnstrecke. Das kommt vor. Es gehört zu meinem Beruf, darüber zu berichten und vor Ort zu sein - ja, extra und schneller als die anderen vor Ort zu gehen, wenn so etwas passiert. Und wenn es passiert, bin ich voll bei der Sache und dabei (lest hier). Dass sich dabei an mir etwas ändert, habe ich im Frühjahr schon geahnt (lest hier) und vor ein paar Wochen ganz deutlich gespürt. 

Die Sonne schien Mitte September so arschfreundlich vom Himmel, dass wieder Sommer herrschte. Ein elendig blauer Himmel. Wärme. Ein Gefühl wie im Juli. Ich war genervt. Ich saß in meinem Auto und war auf dem Rückweg von einem Dorffest. Das empfand ich als dermaßen langweilig und aufgesetzt, dass ich in meinem kleinen Auto mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit und voll aufgedrehten Kraftklub-Songs dagegen anraste. Ich suchte zielgerichtet nach Titel 12 des aktuellen Albums. "Schöner Tag" feat. Casper. Ich wollte diese Zeilen auf den Asphalt pressen: 

Heute ist ein schöner Tag, die Sonne scheint
[...]
Ein schöner Tag, die Vögel singen
Als würden sie wollen, dass ich fröhlich bin
Ein schöner Tag, die Blumen blühen
Der Nachbargarten ist saftig grün
Heute lohnt es sich mal aufzustehen
Ein schöner Tag um draufzugehen!
So weit, so negativ. Doch gerade in dem Moment, in dem Casper und Kraftklub die folgenden Zeilen von sich rotzen ...
Keine Sorgen weit und breit, nur Geborgenheit
Und wer weiß, vielleicht ist es morgen schon so weit
Und dann ich bin reich, kauf ein Auto, leb den Traum:
180 km/h gegen einen Baum!
... erhielt ich die Nachricht, dass ein Hubschrauber abgestürzt sein soll - mitten in der Stadt, nicht mal weit weg von meinen Freunden. Ich peitschte also erst recht über die Straße und stellte nur eine Kurve weiter beim Blick aus dem Auto fest, dass das Blaulicht der Polizei auf einem Feld neben der Straße auftaucht. Ich sah kein Feuer. Ich sah keinen Rauch. Ich sah Blaulicht und einen kleinen Hubschrauber. 
Der Gedanke, dass es also keinen meiner Leute getroffen haben kann, wich schneller als mir im Nachhinein lieb ist dem Gedanken, dass der Absturz nun also nur wenig spektakulär sein kann. Angekommen auf dem Feld fand ich tatsächlich einen Hubschrauber kaum größer als mein Auto vor. Die Insassen hatten ihn verlassen. Und aus meinem Mund kam angesichts des leuchtend roten Klein-Hubschraubers der von einem Schulterzucken begleitete Satz: "Das sieht aus wie eins meiner missglückten Parkmanöver." Ich gebe zu: Ich war regelrecht enttäuscht, dass es am Ende so harmlos war. 
Was mich nun noch kickte - und nichts anderes wollte ich wohl in dem Moment -, war die erste Journalistin vor Ort zu sein und der Kampf gegen die anderen Blaulichtreporter. Das ist noch immer eine klassische Männerdomäne und eine, in der man schnell sein muss. Ich drückte auf die Tube, war genervt von allen Störungen dabei und schenkte den anderen Blaulichtreportern die volle Breitseite meiner Arroganz. Dass ich meinen Text und meine Fotos zuerst und fehlerfrei online hatte, das kickte mich. Das Adrenalin holte ich mir an der Tastatur und im Wettrennen gegen die anderen Medienhäuser und die Kerle dort, nicht auf diesem Feld. Aufgekratzt kam ich bei meinen Freunden an. Ich ließ es so aussehen, als sei es einfach ein kleiner Schock. Der setzte da tatsächlich langsam ein - beim Beobachten meines Selbst ... und beim Gedanken an den Song, der Hubschrauber war mir egal geworden.

In den letzten Wochen passierte wenig bis gar nichts im Blaulichtmilieu. Mir wurde langsam langweilig. Auch das gebe ich zu. Mir fehlte Adrenalin. Ich mag Adrenalin. Ich bin gerne schnell, schneller als andere. Heute kam es nun zu einem Verkehrsunfall auf einer Bundesstraße. Drei Verletzte. Ich kontaktierte den Fotografen und er wollte mich daheim abholen, sodass wir gemeinsam zum Einsatz fahren konnten. Dass sieben Minuten bis zu seinem Eintreffen vergingen, war mir schon zu lahm und ich genervt. "Das nächste Mal mach ich das wieder allein", beschloss ich für mich. Allein bin ich schnell genug oder sogar schneller. Dann stand ich da. Es sah aus wie so ein Autounfall eben so aussieht, nichts Spektakuläres. Blech, Blaulicht und Rettungskräfte. Ich nahm es schlicht zur Kenntnis, es berührte mich null.

Klar, ich hatte nie erwartet, dass ich nach solchen Sachen in Tränen ausbreche oder schlecht schlafe, mir eine Therapie wünsche und Dinge verarbeiten muss. Das wäre fatal und es passierte nie. Aber: Kam ich früher zu Autounfällen dazu, dann zuckte mein eigenes in einem Unfall geschundenes Knie wenigstens noch. Das Gesehene berührte mich also. Kam ich früher zu Unfällen dazu, benutzte ich meine Kamera ganz bewusst, um durch sie das Gesehene zu einer Betrachtung durch eine Linse und es damit zu etwas zu machen, was ich nicht wirklich mit eigenen Augen sehe. Das Zittern hat Unfall um Unfall abgenommen. Inzwischen ist es gar nicht mehr da. Es ist weg. Ich brauche die Kamera nicht mehr als Schutzschild. Ich brauche sie nur noch zum arbeiten. Ich mache nur noch meinen Job. Da ist immer mehr Schulterzucken. Die private Person ist nicht mehr dort dabei. Und ich belächle Kollegen, die in solchen Momenten von einem katastrophalen Bild vor Ort sprechen, das alles "ganz grausam" finden, Großeinsätze herbeifabulieren, dramatisieren, laut leiden und sich mitunter noch Auszeiten nehmen wollen wegen solcher Einsätze. Ich finde, sie sind zu weich. Und ich finde alles halb so wild. Das sind ganz normale Einsätze. Berichtenswert und sonst nichts. Es könnte, es dürfte alles krasser, ja spektakulärer sein.

Ist es gut so? Ist es besser so kühl zu agieren und immer weniger an sich heranzulassen? Ist das ein Vorteil? Bin ich einfach nur Profi? Mache ich einfach nur meinen Job? Als Journalist und nicht als Mensch? Ist das schlimm? Ist meine Entwicklung schlecht? Habe ich inzwischen so viel Erfahrung mit den negativen Dingen, dass ich drüber stehe und sie besser einsortieren und daher kontrolliert annehmen kann? Bin ich auf- oder abgeklärt? Oder beides? Wäre das schlecht? Bin ich abgestumpft? Ist man abgestumpft, wenn man diese Entwicklung seiner selbst noch registriert?

Freitag, 9. Oktober 2015

Von Brandenburg lernen, heißt chillen lernen

Die Zeitung, für die ich arbeite, hat eine Rubrik namens "Heimat ist..." - da erzählen Leute aus dem gesamten Landkreis, was ihnen ihre Heimat bedeutet und was es für sie ausmacht. Ich frage mich, wie man Heimat eigentlich definiert... Ist es da, wo das Herz ist? Na, dann ist es wohl auch dort, wo man sein Phrasenschwein füttert... Ist Heimat (k)ein Ort? Ist Heimat ein Gefühl?

Ich gehöre zu den Glücklichen, die zwei Heimaten haben. Spätestens als ich mich im Sommer 2013 trennte, fand ich meine große Liebe. Eine schroffe Schönheit, ohne die ich nicht mehr sein kann. Einen echten Hafen. Ich saß etwas planlos, glücklich getrennt und in fiebriger Aufbruchstimmung im Auto und wusste nicht, wohin mit mir - und wohin mit dem Auf- und Ausbruch. Ich rief meinen Bruder an, schilderte kurz die Sache und stand zwei Stunden später in Brandenburg. Heute ist es Das Land, das mir gehört und das Land, wo ich einfach sein kann, mein just B. Die zweite Heimat, die mich bald wieder empfängt.

Als mein großer Bruder vor nun schon fast einem Jahrzehnt mit der damals noch dreiköpfigen Familie in eine Gegend zog, die wirklich am besten im Song "Brandenburg" von Rainald Grebe beschrieben ist, haben wir anderen noch müde gelächelt. Brandenburg. Ausgerechnet Brandenburg. Da ist doch nichts außer Waldmeer, Sandmeer, gar nix mehr? Wie viele Kilometer mein Neffe da bis zur Schule zurücklegen müsste? Die Teenager fahren sich doch dort an Alleebäumen tot? Was macht man in Brandenburg, wenn man alt wird? Drei Stunden bis zum Arzt fahren? Wenn man nicht vorher in die Allee gurkt? In Brandenburg, da soll es doch wieder Wölfe geben?

Wenn ich heute an Brandenburg denke, muss ich immer wieder lächeln. Beseelt. Mein Herz wird weit, wenn ich die Landesgrenze auf dem Hinweg passiere und schwer auf dem Rückweg. Waldmeer, Sandmeer, gar nix mehr. Von Brandenburg und seinen Menschen kann man lernen. Glück kann man lernen. Denn in Brandenburg ist, so jedenfalls mein Empfinden, eine angenehme Wurschtigkeit weit verbreitet. Was soll man auch machen in Brandenburg? 

Wer es sonst nicht schnallt, schnallt es dort, dass Materielles ein Nichts ist. Wenn man zum Beispiel wie mein Bruder mit der inzwischen fünfköpfigen Familie auf einem Grundstück lebt, dessen märkischer Sand es einem ohnehin unmöglich macht, auf clean-grüne Rollrasen-Reihenhaus-Idylle zu machen, lebt man sogleich entspannter. Wenn man eh keinen zuverlässigen Empfang hat, ist das Handy ja auch wurscht. Wenn dir eigentlich permanent der Wildunfall droht, auch deine Karre. Um nur ein paar Beispiele für die Fans äußerer Werte zu nennen...

Für mich ist es natürlich mehr. Reihenhaus und Rollrasen mochte ich eh nie. So leben wie in Brandenburg will ich in meiner Heimat. Ein bisschen wie mein Bruder und seine Familie. Wo - neben vielem anderen - zwei Menschen keine Beziehung führen, sondern Partner sind. Und jeder für sich, alle zusammen in dem tiefen Bewusstsein agieren, dass wirklich alles irgendwie schon gut wird. Bewusst und befreit. Sorg- und achtsam. Selbst nicht sorgenfrei, aber ohne Problemwälzerei oder vor allem das Drehen um die immer gleichen Themen und Menschen, die man eh nicht ändern kann, dem Aufregen über die anderen und die, die einem nicht guttun. Mit einem Schulterzucken für Viele und Vieles, was einem im Leben begegnet - und offenen Armen für die Wichtigen und das Wichtige im Leben. Wo alles und alle gestrichen werden, die einem nicht guttun. Ein bisschen wie ein lebendig gewordener Kalenderspruch - "What's meant to be will be." Loslassend. Einfach ent-spannt. 

Jedes Mal nehme ich mir ein Stück Brandenburger Wurschtigkeit mit nach Hause. Ich brandenburgisiere mich und meine Heimat. Doch wann immer ich nach Brandenburg fahre, nehme ich mir Essen mit. Notfalls gibt's eine Wurscht für die Wölfe.

Sonntag, 20. September 2015

Schade, schon wieder aus und vorbei

Schade eigentlich... Oft hören bei mir die Dinge auf, bevor sie richtig angefangen haben. Diesmal traf es meine Freizeitgestaltung. Ich befand mich - hervorgerufen ausgerechnet durch Sat1 - gerade auf dem Weg zum Serienjunkie. Und das will was heißen!

Immer wenn ich zum Zahlen von Rundfunkgebühren aufgefordert werde, bocke ich zunächst mit Worten "Wieso ich? Ich guck doch gar nicht!" Beim Überweisen fällt mir wieder ein, dass ich den Tatort und die Tagesschau in der Mediathek schaue, Sendungen mit Carolin Kebekus und/oder Katrin Bauerfeind dort abrufe oder auf thematische Empfehlungen meiner Freunde, die eine Sendung sahen und sie lobpreisen, ebenfalls öffentlich-rechtliche Angebote im Internet konsumiere. Immerhin ein bisschen TV schaue ich also.

Kürzlich hörte ich, dass Sat1 mit "Mila" täglich eine Serie um eine junge Journalistin (Beziehungsstatus: Single) in Berlin zeigt. Pflichtprogramm. Ich wollte was zum Lästern für diesen kleinen Blog hier, mich ereifern über die unrealistische Darstellung und mich in Rage schreiben über einen komplett sinnfreien Plot, klischeehafte Berlin- beziehungsweise Berliner-Darstellung und die falsche Interpretation des Journalismus.*

Die Serie lief (das Präteritum ist wichtig) seit 7. September. Ich stieg am 14. September via Mediatheken-Konsultation ein und holte zudem die Vorwoche nach. Als ich schon an der Stimme sofort erkannte, dass die von mir sehr geschätzte Leslie Clio die Titelmelodie trällert, wollte ich der zunächst Hergeben für eine Scheißsoap auf Sat1, wo er nur Mist gesendet wird, vorwerfen und sofort ausmachen. Aber man wird ja ruhiger im Alter. Ich gab der Romantic Comedy-Serie also eine Chance. Doch vergebens. Die Serie wurde am 18. September schon wieder wegen schlechter Quoten abgesetzt, es wird nicht mehr gedreht, das Produzierte bei sixx versendet. Ich finde das bedauerlich.

... zumindest ich erfreute mich zusehends an Sätzen wie "Du knuffiger, kleiner Freiberufler..." oder "Du bist stolze Besitzerin einer zauberhaften Vagina...", ja sogar Anspielungen auf "Harry&Sally" ("Ich will das, was sie hatte"). Diese Mila sitzt wie Carrie Bradshaw in ihren besten Zeiten am Laptop auf ihrem kleinen Schreibtisch und lässt uns Zuschauer mit ihrer Gedankenstimme Teil haben an der Kolumne, die eben ihr Leben ist. Übrigens auf (selbst)ironische und witzige Art und Weise, einfach gut gemachte Unterhaltung.

Die mit Anfang 30 nicht mehr ganz taufrische junge Heldin (verdammt, so ist es nun mal) Mila schlägt sich als freiberufliche Journalistin durchs Leben. Sie bekommt 18 Cent pro Zeile für App-Kritiken auf einer Online-Frauenmagazin-Plattform. Zeilensätze um die 20 Cent - da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht, das ist realistisch! Mila sieht ziemlich normal aus, nicht wie frisch von einem Werbeplakat gesprungen. Erste Fältchen, die Haare nicht "bad hair day" und auch nicht "Drei Wetter Taft-Spot", die Figur ganz normal (mehr Hintern als Brust) und nicht Topmodel. Mila ist Single. Als ihr ihre kleine Schwester offenbart, dass sie in 287 einen Schwiegermutterliebling heiraten wird, der ungefähr so sexy ist wie Frauenzeitschriften investigativ, fragt Mila "Willst du nicht erstmal ...leben?!?!" Und nimmt sich doch vor, innerhalb dieser 287 Tage bis zur Hochzeit ihrer Schwester ebenfalls ihren "Mr. Right" zu finden - was so viel heißt wie "Mitten rein ins Leben!". 

Die Suche nach Mr. Right oder etwas Vergleichbarem, das treibt unzählige Serien, Filme und Bücher an. Mila will einen Mann. Keinen Versorger, einfach nur einen Mann an ihrer Seite. Genau darum wirft man der Serie nun auf Spiegel Online unter anderem Sexismus vor - lest hier

Herrgott, als ob es ein Verrat am Feminismus wäre, sich dem Verlieben zumindest nicht zu verschließen und Partnerschaft grundsätzlich nicht falsch zu finden ... Außerdem braucht eine Serie ja eine Handlungsmotivation ... warum nicht die, innerhalb einer bestimmten Frist so etwas wie Liebe erreichen zu wollen oder zumindest mit diversen Männern diversen Kontakt zu haben? Und verflucht noch eins, das ist unterhaltsam. Die Suche nach etwas und die Entwicklung eines Menschen ist doch mehr Serienstoff als der Alltag des Otto Normal. Sagt ja keiner, dass es der jungen Heldin bis zuletzt um "Mr. Right" oder vielleicht doch einfach nur um ihren Weg geht. Und von "Mann, Kinder, Job aufgeben" war doch auch gar nicht die Rede. Mit Sicherheit wäre es amüsant geworden - und das sollte eine Vorabendserie vor allem sein -, dem Ganzen und damit auch der Sache mit den Kerlen mehr als 10 Folgen Chance zu geben. 

Was gibt es da nicht alles zu thematisieren ...

Schleimer, die sich Hoffnungen machen und ernsthaft Gespräche mit "Du hast so schöne Augen" anfangen. Hoffnungsvolle Kandidaten, die lieber wieder zur Ex kriechen - tatsächlich lässt eins ihrer Dates Mila sitzen, um Sex mit seiner Ex zu haben. Und dann noch massig Sprüche mitten aus dem Journalistinnensingleleben wie "Ich hatte noch nie eine Frau, die intelligenter ist als ich, das wird nichts mit uns", "Ich kann keine Frau haben, die so selbstständig ist" oder - immer wieder gern - "Du bist halt selbstbewusst" als sage man(n) "Du hast halt nen Buckel".

Oder die zwischen den Zeilen mitschwingende Aussicht, dass die nicht mehr ganz so junge Heldin Mila zeitweise was mit einem Kollegen - in dem Fall dem Redaktionsfotografen - anfangen könnte. So einer steht ja auch fix mal unterm Fenster und singt dir was vor. Der fällt beim Blumenpflücken in die Rosen und man muss ihn vor dem Arschtritt noch verarzten. So einer fragt, ob man mit ihm "schöne und intelligente" Kinder in die Welt setzen möchte und kann nicht lachen, wenn frau sagt, dass sie dafür ja nur die eigenen Gene und nicht seine braucht. 

Schade eigentlich, dass Mila all das nie erleben darf ... vielleicht ist genau das Sexismus, dass sich journalistisch tätige Serienheldinnen nun nicht mal mehr selbstreflektierend und selbstironisch durchs Singleleben in all seinen Facetten toben beziehungsweise davon berichten dürfen ...

* Doch manchmal steckt doch ein wenig Wahrheit in Journalisten-Serien - siehe da.

Samstag, 12. September 2015

Sie können mich auch mal gegenlesen!

Wann immer Menschen mit Menschen (beruflichen) Kontakt haben, bleiben formschöne Dialoge nicht aus. Da kann man vermutlich Brötchen oder eben Zeitungen machen, nur will Brötchen keiner vor dem Backen nochmal sehen:

Ich war auf einer Baustelle eines örtlichen Versorgungsunternehmens:

Er: "Den Text schicken Sie uns dann vorher zu."
Ich: "Wieso?"
Er: "Nicht, dass sich Fehler bei den Zahlen einschleichen."
Ich: "Dann gehen wir die jetzt noch einmal durch, ich wiederhole ... ... ... ..."
Er: "Ja, schon richtig alles, aber Herr X schickt uns das trotzdem vorher immer zu."
Ich: "Naja, jetzt ist eben ein neuer Sherif in der Stadt!"
Er: (lacht) "Okay."

Ich hatte ein Gespräch mit einem örtlichen Unternehmer, der sich eventuell durch meine Anfragen gegängelt fühlt(e). Bis dato hatten wir nur telefonischen oder schriftlichen Kontakt.

Er: "Also ich hatte Sie mir anders vorgestellt!"
Ich: "Wie denn?"
Er: "Irgendwie langweilig, älter, zickig und schnippisch, aber nicht so ... ähm, charismatisch."
Ich: "Keine Sorge, was Sie zickig und schnippisch nennen, mach ich trotzdem - ich seh halt nur besser aus dabei." 
Er: "Kann ich dann den Text vorher trotzdem nochmal lesen?"
Ich: "Nö."
Er: "Ich sag doch zickig"

Ich kam der Forderung nach Gegenlesen eines Artikels mal wieder nicht nach. Mein Gegenüber meinte, ich sei rechtlich dazu verpflichtet. Ich weiß, dass dem nicht so ist und lehnte mit Begründung ab. 

Er: "Sie sind aber ganz schön zickig!"
Ich: "Ich würde es ja eher informiert nennen."
Er: "Mit Ihnen möchte ich aber auch nicht verheiratet sein!"
Ich: "Ich mit Ihnen auch nicht!"

Mittwoch, 9. September 2015

Abschließen

Du kannst als Journalist den Aufmacher auf der Straße finden. Du kannst als Journalist deine Ideen verwirklichen. Du kannst als Journalist Ideen von anderen zugeschustert bekommen und sie umsetzen. Vielleicht passiert gerade alles zusammen. Und wird vielleicht (alles) gut.

Die Geschichte, die ich nach wie vor als die wichtigste meiner Laufbahn bezeichne, ist die über einen schwer verunglückten Feuerwehrmann. Wollte ich hier dokumentarisch aufschreiben, was ihm und anderen Kameraden geschehen ist, müsste ich eine Erläuterung finden, die genau 2,6 Sekunden Lesezeit beansprucht... 

Machen wir es ähnlich kurz: Auf dem Weg zum Hochwasser-Einsatz im Juni vor zwei Jahren ist in 2,6 Sekunden ein Fahrzeug der Feuerwehr von der Straße abgekommen und in ein Haus gekracht. Neun Kameraden wurden bei dem Unfall verletzt. Einer so schwer, dass dieser Tag im Juni sein letzter hätte sein können... doch er hat überlebt und im Herbst vor zwei Jahren habe ich ihn kennen gelernt, über ihn geschrieben und dabei weit mehr als meinen Job gemacht. 

Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Einer auf der Basis, in der ich ungestraft sagen kann "Mal ein Haus im Bauch gehabt zu haben, ist nix gegen Menstruationsbeschwerden, du Arschgeige!" und noch eine Menge anderen Unsinn. Und: Der Kerl hat mich schon bei unserem ersten längeren Gespräch zum Weinen gebracht. Mein kleiner Bruder zählt mit, wie oft ich im Leben geweint habe - es sind sehr geringe Werte... Warum es also im November 2013 diesen XL-Gefühlsausbruch meinerseits gab, das steht andeutungsweise hier...

Was da nicht steht: An diesem Unfalltag im Juni ging die Sirene, wollte ich die Leitstelle um Infos bitten und rausfahren zu dem, was auch immer da geschah - aber ich wurde daran gehindert, meinen Anruf hat es nie gegeben. Später erst also erfuhr ich, was passiert war. Aber da passierte mir nach der Sirene längst, was passieren musste: An diesem Tag begriff ich nach langem Kampf, dass ich in meinem alten Leben nicht mehr sein kann. Mann, Kind(er), Haus. Normales Leben. Das war der Plan. Der anderer. Nicht (mehr) meiner. Ich konnte nicht so sein, wie andere mich haben wollten. So wie ich bin, war ich nicht gewollt. Ich habe mich umgedreht und bin endgültig aus diesem Leben verschwunden. Meine Flucht, vielleicht auch vor dem "normalen Ich" und dem "wie jede andere", das ich mir bis dahin selbst vorgaukelte sein zu müssen, endete bei Freunden. Die veranstalteten einen Flohmarkt, dessen Einnahmen den Hochwasseropfern in der Kommune gespendet werden sollten, in die die Feuerwehr eigentlich unterwegs war. Ich kaufte für eine Unsumme eine Sonnenblende mit der Aufschrift "Normale Leute machen mir Angst". Ich brachte sie in der Heckscheibe meines kleinen roten Flitzers an und dort hängt sie noch heute, und noch immer ist es viel zu oft wahr.

Im November 2013 wurde meine erste Geschichte über den Feuerwehrmann in der Lokalzeitung veröffentlicht. Eine große, bewegende, gut geschriebene Geschichte. Aber eine, die die Verletzungen des Mannes zwar oberflächlich und doch gerade noch detailliert genug beschrieb, um nur einen Schluss zuzulassen: "Der kommt nicht mehr in sein altes Leben zurück." ...
Als der Unfall ein Jahr her war, wurde eine noch größere Story von mir über das Unglück und weitere Betroffene im Feuerwehr-Magazin veröffentlicht.


In wenigen Wochen wird in der Zeitschrift ein weiterer Artikel von mir erscheinen, der sich mit dem Ersatzfahrzeug beschäftigt, das die Wehr im Frühjahr offiziell in Dienst stellen konnte. Nur wer mich schon immer für kalt hielt und noch dazu keinerlei Ahnung von den Zeilenhonoraren im Printjounalismus hat, würde mir ernstlich vorwerfen, ich wolle Kapital aus dieser Sache schlagen. Das Honorar des Magazins habe ich unter anderem in Form von Bier mit Kameraden geteilt. Und auch mit dem kommenden Honorar werde ich so verfahren. Mehrfach musste ich den Artikel ändern, an einer Stelle freue ich mich darüber ...

Schrieb ich in der ersten Version noch, dass der beim Unfall Schwerstverletzte noch immer weder zurück im Arbeitsleben noch zurück im aktiven Dienst der Feuerwehr ist, wurde jetzt innerhalb weniger Wochen alles anders. Immer und immer wieder sage ich "Alles wird gut." Immer und immer wieder habe ich das auch dem Feuerwehrmann gesagt. Ich bin eine sehr rechthaberische Person... 
"Ich hoffe sehr, dass ich den Feuerwehrmann eines Tages zufällig beim Bäcker oder im Supermarkt treffe und er mir auf den Kopf zu sagen kann, dass er wieder ganz er selbst und mit sich und seiner Geschichte im Reinen ist. Ich wünsche mir, dass er im besten Sinne ab sofort ein Leben ohne besondere Vorkommnisse führen wird. Ein ganz normales Leben!"
, schrieb ich im November 2013 im besagten XL-Post. Wir treffen uns selten zufällig. Wir verabreden uns oft. Sein Leben ist normal. Frau, Kinder, Haus. Besondere Vorkommnisse aber wird es immer geben: Im August hatte er seinen ersten Einsatz, er ist wieder ein "echter" Feuerwehrmann. Und "normal" sind die alle nicht, da muss ich keine Angst haben. Seinen ersten Einsatz habe ich verpasst. Ich feierte gerade den 60. Geburtstag meiner Mutter. Aber hey, 14 Stunden Wehen wegen mir gehen auch vor Haus im Bauch! 

Der Feuerwehrmann steht zudem wieder im Berufsleben. Sein neuer Chef hatte die Idee, genau darüber müsse man doch mal schreiben. Vermutlich wittert er gute PR dahinter und eigentlich mag ich sowas nicht. Der Feuerwehrmann hatte dem neuen Chef bereits das Einverständnis gegeben, sofern eine bestimmte Journalistin - ich - den Text schreibt. Als ich den Chef anrief und er sagte: "Ich habe damals diese große Geschichte gelesen über ihn und die hat mich so berührt, aber nie wurde aufgeklärt, was aus ihm geworden ist", gab ich mich endgültig geschlagen und sagte ein Pressegespräch zu dem Thema zu.  

Es schnurrt alles zusammen ... Nur ein paar Tage zuvor war ich - mal wieder, auch so eine Sache seit dem Juni 2013 - mit der Feuerwehr unterwegs. Gemütliches Beisammensein am Lagerfeuer. Ich wurde Ohrenzeuge als zwei andere Kameraden ihm das erste Mal erzählten, wie sie ihn damals aus dem Unfallfahrzeug retteten, was sie alles tun mussten, um ihn zu befreien. Als sie davon sprachen, wie es für sie als Nicht-Unfallopfer war plötzlich vor dem Wrack eines Feuerwehrautos zu stehen und einen Kameraden zu retten, begriff ich, dass ich in all meinen Geschichten eine wichtige Sache stets ausgelassen hatte - die Perspektive dieser Männer. In meinem Kopf zitierte ich mich selbst aus meinem ersten Manuskript für das Feuerwehr-Magazin ... "Dieser 8. Juni ist ihnen allen passiert." ... vielleicht auch mir ... Als die Männer am Lagerfeuer weich wurden, hatte ich längst die erste Träne verdrückt ... 

Ich werde in der Lokalzeitung noch einmal über den Unfall schreiben. Aus der Sicht vieler dieser Kameraden und mit ihrer Hilfe. Die Story muss abgeschlossen werden. Die Geschichte - seine, meine, unsere - geht weiter. Nur mein Rumgeheule, das muss wirklich mal ein Ende haben.

Samstag, 8. August 2015

Das Land, das mir gehört

Ein erster echter Sommertag im Juni. Die erste Hitze flirrt noch am Abend. Die Sonne hat die Haut verfärbt. Und nass bis auf die Haut stehen wir da. Erschöpft. Glücklich. Gerade wurde hier eine Schlacht mit Gartenschlauch geführt. Es gibt nur Gewinner. 

Mein kleiner Bruder nimmt meine kleine Nichte in den einen Arm, lässt seinen anderen Arm weit schweifen und sagt "Eines Tages wird das alles dir gehören." Brandenburg... ganz Brandenburg ...

Brandenburg. Es gehört meiner Nichte schon. Es gehört meinem kleinen Bruder. Es gehört unserem großen Bruder. Es gehört seiner Frau. Es gehört den Söhnen der beiden. Es gehört mir. Das Land gehört uns allen. Einmal Paradies für jeden. Entdeckt und erobert hat es mein größter Bruder. Er hat teilen gelernt. Wir dürfen ihn im brandenburgischen Paradies besuchen, wann immer wir wollen. Ein Stück abhaben.

Wir dürfen an einem Ort sein, wo vor dem kleinen Häuschen die Salzwiese im Morgengrauen den Blick auf Rehe im Dunst gewährt ... und nachts nicht mehr zu hören ist als die Tiere, die durch den Garten schleichen ... und hinter dem Haus der Wald ins Dunkel lockt. Ein Ort, an dem man aus der Haustür tritt, um sich eine Zucchini fürs Abendessen zu pflücken und sein Kompott nascht, indem man im Kirschbaum sitzen bleibt.

Ich darf das Land haben. Zwei Wochen lang ... live und in Farbe, zwei Wochen darf ich da sein. In dem Land, in dem ich sein kann wie ich sonst nirgends sein kann - just B nenne ich das und habe ich vergangenes Jahr schon einmal versuchsweise in Worte gefasst, was Brandenburg (mir) bedeutet. Just B, just be...

Manchmal sagte ich schon, dass ich eines Tages in dieses Land auswandern werde. Bis mir ein guter Mann erst vor wenigen Tagen beigebracht hat, dass Brandenburg dann nicht mehr dieses Brandenburg für mich sein kann. Wo Alltag und damit das Grau einzieht, hört die Sonne auf, die Dinge ins Zauberlicht und alle Farben zu tauchen. Und ich bin nur noch ich und nicht die brandenburgische Version meiner selbst.

Also bleibt Brandenburg besser ein Fluchtpunkt. Mein Paradies auf Zeit. Das Land, in dem ich barfuss laufe bis ich keinen Schuh mehr (er)tragen kann. Das Land, in dem ich weiter denke und weiterdenke. Das Land, in dem ich "so sehr dabei" bin bei allem, was ich tue. Das Land, das mich berauscht ohne Rausch. Das Land, in dem sich kein einziger Gedanke im Kreis dreht. Das Land, das etwas mit mir macht und mich jedes Mal verändert. Brandenburg gehört zu mir.

Es gibt Menschen, die wollen etwas davon haben - von meinem Brandenburg. Ein älterer Kollege will zeitgleich mit mir eine Woche Urlaub in Brandenburg machen - sofort habe ich panisch reagiert, er solle den Großraum um mein Paradies meiden, die genauen Koordinaten in eine Mauer des Schweigens gehüllt. Ein jüngerer Kollege will Zeit mit mir in meinem Paradies verbringen und die Adresse haben, sich ein Stück (von mir) nehmen. Nein. Nein! Nein!!! Das ist falsch. Diesen beiden möchte ich kein Stück Brandenburg abgeben, keinen Zentimeter. Wen ich gewähren lasse, dem lasse ich persönlich die Zugbrücke runter.

Mein Paradies verrate ich nicht jedem ... ich verrate mich nicht.

Dienstag, 28. Juli 2015

Wenn es passiert

Es ist Zeit für ein wenig Aufklärungsarbeit. Ein mir freundlich gesinnter Polizist hat mir eine Kolumne aus einer anderen Lokalzeitung zukommen lassen.  

Kurz zum Inhalt:

Im Text beschreibt die Autorin, dass sie kerzengerade im Bett saß, als die Sirenen nachts um drei Uhr losheulten und von einem Feuerwehreinsatz kündeten. Als Vollblutjournalistin habe sie natürlich reagiert. Schlaftrunken und völlig neben der Spur habe sie Mühe gehabt, Klamotten, Schreibblock und Stift zu finden. Als sie - das Adrenalin kochte wohl förmlich - den Unglücksort zirka 20 Minuten später erreichte, beobachtete sie einen kühlen Kopf bewahrende Feuerwehrleute. Im Gegensatz zu manch mürrischen Kameraden der älteren Generation hätten die jungen Frauen und Männer erkannt, dass Journalisten auch nur ihren Job machen und damit zur Wahrnehmung des Ehrenamts in der Öffentlichkeit beitragen, weshalb die Zusammenarbeit gut sei.*

Lang zu meiner Sicht der Dinge:


Mit meinem journalistischen Selbstverständnis bin ich im 21. Jahrhundert aufgewachsen, also dort schon längst angekommen - ich schaffe mir also Vorsprung durch Technik. Daher reagiere ich nicht auf die Sirene allein, sondern auch auf etwas, das ich in diesen Momenten liebevoll "Fiepsi" nenne. 

So oder so: Gelegentlich werde ich nachts um eins, zwei, drei, vier oder fünf mit schrillen Tönen geweckt. Ich sitze in der Folge nicht kerzengerade im Bett. Ich stehe daneben. 

Dort eruiere ich, um was für einen Einsatz es sich handelt und wo er stattfinden soll. Meist begleite ich dies einleitend mit einem Kommentar wie "Ach, verfickte Scheiße!" Ich fluche sehr gerne und das ist eine gute Gelegenheit, richtig vom Leder zu ziehen. Bei Ölspuren lege ich mich meistens - fluchend natürlich - wieder hin. Bei Bränden und anderen Sachen greife ich zu eben der Klamotte, die grad noch rumliegt oder die irgendwie greifbar ist, was mir niemals einen Mode-Oscar einbringen wird. Was ziemlich egal ist. 

Ich whatsappe einen freien Fotografenkollegen an, um was es sich gerade handelt und ob er a) kann/will und b) er mich oder ich ihn abhole oder c) ich allein Text und Bild mache. Muss ich viel schreiben, dauert es eben ein bisschen länger.

Ich werfe mir parallel weiter Klamotten über, fummle mir fix einen BH unters Schlafshirt, spähe aus dem Schlafzimmerfenster zum Wetter. Mit dem Handy zwischen den Zähnen gehe ich ins Bad, wo ich das erste Mal Licht anmache. Wenn der Kollege noch immer nicht reagiert hat, lege ich das Handy ab und fummle mir Kontaktlinsen in die Augen, um eine meiner größten Schwächen und Behinderungen auszugleichen - die Kurzsichtigkeit, die mich locker 40 Sekunden kostet, verfluche ich dann am meisten. Aber mit Kontaktlinsen im Auge fotografiert es sich besser als mit Brille auf der Nase und sie beschlagen nicht bei Kälte oder sammeln Regentropfen auf sich.

Schließlich düse ich also im Großteil der Fälle allein los. Ich schlüpfe in x-beliebige Schuhe, meine Tasche mit Notizbuch und Stiften steht griffbereit wie die Kamera samt Wechselakku und Speicherkarten im Flur. Ich flitze aus meiner Wohnung die Treppe runter und in den Hinterhof, wo mein Auto steht. Auf dem Weg zum Hoftor tippe ich eine Nachricht an meinen Chef, dass ich und zu welcher Art Einsatz ich aufbreche. Nachts erfolgt mitunter keine Reaktion, am Tage kommt sie häufig prompt. Ich zwirble mein Auto aus der Parklücke. Wenn der Nachbar sein Auto wieder eher blockierend geparkt hat, stoße ich - weil es eh grad so schön flutscht - noch ein paar Flüche aus. 

Ich verlasse den Hof, schließe noch brav das Tor hinter mir. Ordnung muss sein. Sobald ich wieder im Auto sitze, gehört mein Fuss dem Gas und die Hand dem Handy, um Infos zu bekommen oder abzusetzen. Ich habe noch nie die Zeit gestoppt, in der ich einen Einsatzorte erreiche. Immer häufiger aber schaffe ich es noch kurz nach dem letzten Fahrzeug der Feuerwehr anzukommen oder es sogar sichtbar knapp vor mir zu haben. Dabei zählt ein bisschen weniger der Reiz möglichst guter Fotos, sondern ein bisschen viel mein Rennfahrergen.

Mein Auto parke ich nahe des Einsatzortes. Und zwar so, dass ich davon ausgehen kann, dass es keinen behindert. Und ich laufe den Rest des Weges, wobei ich nach Möglichkeit und Bedarf die ersten Fotos schieße. 

Im Falle für mich eigentlich nicht zu betretender Betriebsgelände quatsche ich mich mit siegessicherer Frechheit und mit Augenaufschlag bis zur "Action" vor, was oft nochmals Zeitverlust mit sich bringt. Sollte ich überraschend 25 Kilo zunehmen, sehr stark altern oder mein Lächeln verlieren, wird das künftig der schwerste Teil des Jobs.

Nah dran am heißen Einsatzgeschehen, treffe ich auf bekannte Gesichter. Meistens bleibt trotz Arbeit und mitunter unschönem Vorfall Zeit für ein Lächeln - auf beiden Seiten. Mürrische Gesichter begegnen mir nicht - auch nicht die Kameraden der älteren Generation reagieren mürrisch. Der Wehrleiter und ich grüßen uns zum Beispiel mit einem teletubbiehaften Winken. 

Sie machen ihren Job. Ich mache meinen. Ich versuche - und es gelingt gut - auf gar keinen Fall im Weg zu stehen und zu warten, bis mir einer der Kameraden sachdienliche Hinweise geben kann beziehungsweise will. Oft gibt es Tipps, wo ich die besten Fotos machen könnte oder wer mir Infos geben kann. Ich laufe "hinter" den Einsatzfahrzeugen lang, damit ich die Arbeit "vorne" nicht störe. Ergibt es sich und ist möglich, darf ich sie auch mal als Aussichtspunkt nutzen - was einem schöne Motive aus den 30 Metern Höhe der Drehleiter einbringen kann. Dass ich das schon in Kleidchen und Flipflops** getan habe, war vielleicht auch für die Gegenseite ein großer Spaß***.

Meine Fotos stelle ich zur Verfügung oder mache extra welche für die Feuerwehr. Je nachdem wie viel Zeit ich mir nehmen kann, bleibe ich möglichst lange vor Ort und beobachte, bis ich wieder was Neues gelernt habe. Getränke und Essen gibt es bei langen Einsätzen also auch für mich - Obstplatten sind leider nicht weit verbreitet in Feuerwehrkreisen. Ist aber auch wurscht. 

Manchmal komme ich noch vor Ort zu der Feststellung, dass mindestens eine der Kontaktlinsen falsch beziehungsweise im falschen Auge sitzt - heißt: mindestens noch ein Fluch. 

Wenn absehbar ist, dass sich die ganze Aktion dem Ende neigt, verschwinde ich entweder einfach wortlos wieder (Am liebsten ist es mir, so zu sein als wäre ich gar nicht da oder nie da gewesen - nicht auffallen heißt, auch nicht negativ aufzufallen.) - oder ich bitte einen der Kameraden, mich noch mit Infos nach meinem Weggang zu versorgen. Ich latsche zu meinem Auto, in dem ich meist feststelle, dass ich wie frisch geräuchert rieche ... und doch adrenalinbeseelt lächle. 

Ich würde die Zusammenarbeit nicht als gut, sondern exzellent bezeichnen.

* Dieser Beitrag ist absolut nicht als "Missbilligung" oder Kritik an der Journalistin des anderen Blattes zu verstehen. Ihr Artikel hat mich nur inspiriert, etwas ins Detail meiner Arbeit zu gehen.
** Inzwischen habe ich ein Paar feste Schuhe in mein Auto gepackt. Sowie eine extra Jacke gegen Kälte und Regen. 
*** Mir wurde neulich gesagt, es habe erstmals mehr Interesse an den Fotos der Kameraden von unten als an meinen Bildern von oben bestanden.

Sonntag, 12. Juli 2015

Nicht mehr lustig

Es ist neben meinem ersten Shitstorm gerade nicht leicht mit der ironischen Betrachtung des lokalen Journalismus. Es gibt nicht viel zu lachen. Die Stimmung außerhalb der Redaktionsräume bereitet Sorgen:

Es gibt eine ältere Dame, die ruft mich mindestens einmal im Jahr an. Sie wohnt in einem Wohngebiet, dem etliche Jahre nach der Erschließung noch immer etwas fehlt - der verbindende Fußweg zu anderen Wohngebieten. Sie bittet mich Jahr für Jahr, bei der Stadtverwaltung zu fragen, wann der endlich mal gebaut wird. Die Stadtverwaltung vertröstet von Jahr zu Jahr. Von Jahr zu Jahr schreibe ich darüber. 
Dieses Jahr meldete sich ein Leserbriefschreiber. In dem Artikel werde vollkommen verschwiegen, dass der Landkreis darüber nachdenkt, einen Radweg zum außerorts befindlichen Asylbewerberheim zu bauen. Noch ist es so, dass die dort untergebrachten Männer auf der Bundesstraße unterwegs sein müssen, um in die Stadt zu gelangen. Indem der Artikel diese Radwegbau-Überlegung zugunsten "dieser Leute" verschweige, müsse man sich als Journalist nicht über die Bezeichnung "Lügenpresse" wundern. Es sei typisch, dass Fakten weggelassen und verschwiegen würden - der Artikel hätte mindestens dies benennen müssen plus noch einige andere Dinge, die für Asylanten statt für den Fußwegbau getan würden. Mit solchen Artikeln bringe man die Leute zu Legida, Pegida und anderen - und gegen sich, die Presse, auf. Wundern solle man sich nicht.

Kürzlich gestand ein Kollege, dass sein Bericht zu einer Infoveranstaltung zur Unterbringung von Asylbewerbern in einem Dorf für ihn nicht ohne Folgen geblieben sei. Der Kollege hatte einen neutralen Bericht über die Debatte des Abends verfasst und beide Seiten - sofern die Äußerungen nicht offenkundig schon selbst strafbar waren - zu Wort kommen lassen. Er hatte die Fakten rübergebracht, keine Meinung oder Wertung geäußert, es glückte ihm tatsächlich Neutralität. Er hatte nur eines nicht getan - einen ausländerfeindlichen Text verfasst. Nun erzählte er: Man ließ ihn kürzlich eindringlich wissen, er solle sich nicht wundern, wenn sein Auto eines Tages ohne Räder dastehe oder es sonst irgendwelche gravierenden Probleme für ihn geben würde.

Ohne Worte ...

Sonntag, 28. Juni 2015

Holy shit, mein erster Shitstorm

WARNUNG: Dieser Beitrag ist lang. Dieser Beitrag ist anders als sonstige Stücke von mir. 

 

Es ist nun knapp zwei Wochen her, dass ich meinen ersten echten Shitstorm erlebt habe. Klar, ich arbeite als Journalist - wer beruflich "austeilt", muss auch einstecken. Und kleinere Shitstörmchen gibt es immer mal, bei denen man sich harter und teils unsachlicher Kritik ausgesetzt sieht. Aber das war ein richtiger, das war großer Shit ... ich wurde anonym sogar als "Schlampe" bezeichnet ... und meine Kinderlosigkeit scheint in vielen kleinstädtischen Haushalten Thema gewesen zu sein und ist es vermutlich noch immer ...

Und fast wäre ich eingeknickt ...

Wie das? Was ist passiert? Hm. Eigentlich nicht viel. Ich habe nur meinen Job gemacht und einen Kommentar geschrieben. Bevor es - es ist nun mal ein Blog - eher subjektiv wird und meine ganz persönliche Aufarbeitung des Erlebten folgt, bemühe ich mich durch Wiedergabe eines Artikels um Objektivität. Ich muss weit ausholen und viel zitieren, damit man verstehen kann. Der folgende Artikel stammt aus der Feder eines Kollegen und war für mich die Grundlage des Kommentars, ich anonymisiere aber an einigen Stellen. 

Schulweg-Sorgen [...]
Straßen bergen hohes Gefahrenpotenzial für Kinder / Eltern fordern Ampel für mehr Sicherheit

Eltern [...] machen sich Sorgen um die Sicherheit ihrer Kinder auf dem Schulweg. Konkret geht es um die Strecke zwischen der Grundschule [...] und dem Hort in der Kindertagesstätte [...]. Zwischen der Bildungsstätte [...] liegen zwar nur ein paar Hundert Meter, doch die haben es in sich, so das Argument. „Die Kinder müssen nach dem Unterricht erst über die [...]-Straße, um zum Zebrastreifen zu kommen. Dort laufen sie über die [...] Straße und queren anschließend noch die [...]-Straße, weil der Fußweg endet“, schildert [...], deren Tochter aktuell die zweite Klasse besucht.
Um ihr Anliegen zu untermauern, organisierten mehrere Mütter vorige Woche zur Mittagszeit in Zusammenarbeit mit [...] vom Auto Club Europa eine Verkehrszählung. [...] bilanziert „erschreckende Zahlen“: “Über den Zebrastreifen in der [...] Straße rollten binnen zwei Stunden 486 Pkw, 7 Busse, 4 Lkw sowie 171 Radfahrer. Viele hielten trotz Kindern am Straßenrand nicht an.“ In der [...]-Straße wurden im gleichen Zeitraum insgesamt 235 Fahrzeuge dokumentiert, in der [...]-Straße 397."
Das Thema Wegesicherheit zwischen den beiden Einrichtungen existiert seit Jahren - aus mehreren Gründen gewinnt das Thema nun erneut an Fahrt. Zum einen steigt die Schülerzahl im [...] Osten. Im nächsten Schuljahr büffeln dort 52 Abc-Schützen, für das Folgejahr ist eine dreizügige erste Klassenstufe im Gespräch. Zum anderen entfällt nach Angaben der Stadtverwaltung die kommunale Bundesfreiwilligendienst-Stelle, mit der die Begleitung der Kinder zum Hort gewährleistet war. „Sie wurde nicht mehr genehmigt“, bedauert Oberbürgermeister [...]. „Wir haben uns an die Arbeitsagentur und den Bund gewandt, auf die Dringlichkeit aufmerksam gemacht. Ohne Erfolg.“ Darüber hinaus wurde die Kreuzung von[...]  und [...]-Straße 2012 als Unfallschwerpunkt eingestuft. Zwar gilt der Knoten inzwischen nicht mehr als auffällig und es waren auch keine Kollisionen mit Grundschülern, die die Unfallkommission des Landkreises auf den Plan riefen. Doch die geforderte Überkopfbeleuchtung des Fußgängerüberweges ist noch nicht installiert. Der Auftrag wurde kürzlich erteilt.
Den besorgten Eltern ist es nun wichtig, Lösungen für die Zukunft zu finden. „Am besten eine Ampel“, sagt Mutter [...]. Schulleiterin [...] möchte ab August eine Freiwilligen-Stelle mit einem Unter-25-Jährigen besetzen, weil es für diese Altersgruppe höhere Bewilligungschancen gibt. „Interessenten sollten sich jetzt melden“, ermuntert sie. Und verweist außerdem auf den nach wie vor stattfindenden Verkehrserziehungsunterricht in der ersten Klasse. „Im Übrigen achten alle Lehrer darauf, dass die Kinder nur in der Gruppe die Straße überqueren.“ Und der Kreisverband der [...] als Träger des Hortes ist ebenfalls tätig: „Wir konnten vier Ehrenamtliche gewinnen, die zunächst bis Jahresende für die Wegsicherheit sorgen“, berichtet Geschäftsführer [...].
Zur Kenntnis: Ich kenne die beschriebene Örtlichkeit und die Straßen bestens. Ich ging dort sogar selbst mal zur Schule. Ich war auch kürzlich vor Ort, als mein Kollege zu der Sache recherchierte. Ich kannte den Artikel. Ich kommentierte, hinreichend als Meinungsbeitrag gekennzeichnet, folgender Art:
Überbesorgte Helikopter-Eltern

Eltern sein, ist nicht leicht. So viel könnte (!) dem Nachwuchs zustoßen. Das war immer so, das wird auch immer so bleiben. Besorgt zu sein, ist okay. Über-besorgt zu sein nicht. Tatsächlich lassen
jetzt an der Grundschule [...] über-besorgte Eltern wegen eines nur wenige hundert Meter langen Fußweges die Alarmglocken schrillen, als müssten die Kinder eine Autobahn überqueren. Dass die Kreuzung am Zebrastreifen als Unfallschwerpunkt gilt, kann bei allem Verständnis für Elternsorgen keine Entschuldigung sein, es mit der Fürsorge zu übertreiben und ein Anspruchsdenken an den Tag zu legen, das von Panik geprägt scheint. Es ist ein Problem unserer Gesellschaft, für das schon der Begriff Helikopter-Eltern geprägt werden musste. Es gibt inzwischen eine Generation Eltern, bei denen das Behüten zur Bevormundung wird. Diese Bevormundung trifft alle und alles um das Kind herum. Es wächst obendrein der Anspruch, die Schule möge es doch bitte alles richten, jeden Schritt begleiten. Da macht die Schule Angebote wie Verkehrserziehung, die Kinder sollen sogar weiter Begleitung haben - ständig von Erwachsenen umgeben, wo bleibt denn da die Kindheit? Eltern sollten sich vergegenwärtigen, wie es bei ihnen - hoffentlich! - war: Man hat allein oder „nur“ mit Gleichaltrigen den Schulweg gemeistert. Beim wilden Toben holte man sich Schrammen. Man ist mal von einem Klettergerüst oder beim Klettern von einem Baum gefallen. Kinder hatten den Freiraum, fürs Leben zu lernen. Und wurden nicht verweichlicht.
Mir ist klar, dass dieser Kommentar polarisieren kann. Mir war beim Verfassen bereits klar, dass dieser Kommentar nicht überall auf Gegenliebe stoßen würde. Er erschien an einem Montag. Als ich nach Verfassen am Freitag davor die Redaktion verließ, sagte ich noch: "Wenn sich dazu jemand bei mir meldet, wird die erste Frage bestimmt sein, ob ich Kinder habe." Ich meinte das als Scherz. Mein Klischeedenken in dieser Sache wurde reich belohnt. Mit dem, was ab Montag bis zum Beginn der nächsten Woche folgte, hatte ich nicht gerechnet.

Reaktionen ...


Am Montag des Erscheinens gingen am Morgen die ersten Anrufe in der Redaktion beziehungsweise direkt auf meinem Apparat ein. Von der Sekretärin bekam ich eine Liste mit Nummern, die ich wohl besser mal zurückrufen sollte, weil die Leute erbost seien. Immer wieder klingelte das Telefon und ging es um den Kommentar. Ich kann und werde nicht alles wiedergeben, greife nur meine persönlichen "Highlights" heraus.

Wie die Frau, die mich anrief und nachdem ich mich gemeldet hatte, gleich folgende Worte für mich hatte: "Sie haben es noch nicht einmal zustande gebracht, ein Kind in die Welt zu setzen und schmieren so einen Dreck in die Zeitung!" Ich erklärte den Unterschied zwischen Bericht und Kommentar, wollte auf die Meinungsfreiheit zu sprechen kommen und ließ meine Kinderlosigkeit vollkommen aus, wurde aber abgebügelt. Unter anderem gab die Frau zum Besten, sie habe ihre Hausaufgaben über mich gemacht, ich sei "kalt kinderlos". Es werde einen Gesprächstermin mit dem Chef geben und dann "werden Sie schon sehen, was Sie davon haben." Wann immer ich verbal dazwischen gehen wollte, fiel sie mir aggressiv ins Wort. Als sie - für mich trotz des generell unsachlichen Gesprächs dennoch als i-Tüpfelchen überraschend - fragte, ob ich es denn lustig finden würde, wenn eines Tages ein Kind dort weggeschnappt und vergewaltigt würde, fing ich an zu erklären, dass dies ja nun nichts mit dem Zebrastreifen zu tun habe. Ich kam nicht zum Ausreden. Die Frau legte einfach auf.

Eine andere fragte, wie erwartet, ob ich Kinder habe. Als ich verneint hatte, ging es los. Dann dürfe ich mir nicht erlauben, über sowas zu schreiben und das sei "bösartiges Geschmiere" einer "kinderlosen Emanze". Sie sei sehr sauer auf mich. Sie werde ein Gespräch mit dem Chefredakteur vereinbaren und dann nütze mir mein "gutes" Aussehen auch nix mehr.

Es folgten bis in den Abend hinein Anrufe dieser aber auch sachlicherer Art. Außerhalb der Redaktionsräume leitete ich auf mein Handy um, damit die Kollegen damit nicht belästigt werden. Die Frage, ob ich Kinder habe, wurde mir allein an diesem Tage fast ein Dutzend Mal gestellt. Es folgte stets die Schlussfolgerung der erbosten Anrufer, ich dürfe daher nicht zum Themenfeld Kinder kommentieren. Bei einigen schien sich dagegen rumgespochen zu haben, dass ich kinderlos lebe und es wurde sofort als "Argument" gegen den Kommentar und die Meinungsfreiheit ins Felde geführt.

Als ich mein Leid kurz klagte, reagierte ein Freund sehr humorvoll: "Dann darf ich mich auch nicht über Tierquälerei im Zirkus aufregen?! Ich habe ja keinen Elefanten, oder wie?!"

Was Anrufe betrifft, schoss jene mir unbekannte weibliche Stimme eindeutig über das Ziel hinaus, die mit unterdrückter Nummer anrief und einfach nur "Schlampe" sagte - und dann auflegte.

Eine Frau überraschte mich dagegen. Diese Frau leitete ihre Rede mit der Vermutung ein, dass ich jetzt bestimmt viel verbale Prügel kassiere und sie dies nun als Anlass nimmt, mir zu sagen, was sie schon lange mal sagen wollte: Meine spitze Feder spreche ihr oft aus der Seele, ich solle mich nicht beirren lassen und mir gewiss sein, dass sie nur stellvertretend für viele andere Leser anrufe. Sie habe gelacht, als von Unfallschwerpunkt die Rede sei und sich sehr gefreut, dass ein richtiger Kommentar dazu verfasst wurde.

Auch ein Rentner bemühte sich in die Redaktion und wollte den Menschen sprechen, der diesen "Dreck" verfasst habe. Die Sekretärin vermutete es gehe um mich. Es stellte sich heraus, dass er den Artikel des Kollegen meinte. Dieser hätte, so der Senior, versäumt zu hinterfragen, dass die Hälfte der gezählten Autos garantiert Elternautos seien, da diese ihre Kinder ja am liebsten bis ins Klassenzimmer fahren würden.

Die angeforderten Gespräche mit den Chefs gab und gibt es nicht. Das Unternehmen steht hinter dem Kommentar beziehungsweise der Freiheit der Kommentatorin.

Mehr als 190 Kommentare ...

 

Im Internet, genauer Facebook, war der Kommentar ebenfalls Thema. Ein paar der besorgten Eltern machten mich über mein Profil ausfindig und schrieben mir private Nachrichten. Interessant waren Schriftsätze wie dieser:
"Es wäre schön gewesen, wenn sie es sich vielleicht vor Ort angeschaut hätten, bevor Sie so einen Kommentar neben unseren Artikel gesetzt hätten."
Aha. "Unseren" Artikel. Ich antwortete, obwohl ich wusste, dass ich es vermutlich nur noch schlimmer mache:

"Bitte nutzen Sie nach Möglichkeit nicht mein privates Facebookprofil dafür. Gerne rufe ich Sie morgen dazu an. Zum Verständnis aber: Es ist nicht Ihr Artikel. Es ist ein Artikel meines Kollegen und ein Artikel der [...]."
Es folgte ein Hin und Her. Sie sprach von schlimmsten Verkehrsverhältnissen. Ich sprach von Meinungsfreiheit. Sie meinte: 
"Nur noch eins, der Artikel wurde durch Herrn [...] an Herrn [... Anmerkung: sie meinte meinen Kollegen, schrieb diesen obendrein aber falsch] (phonetisch) gesendet. Er hat sich draußen die Infos die er dazu braucht raus genommen."
Das konnte ich wiederum nicht unkommentiert lassen. Asche auf mein Haupt, es ging auf 21 Uhr zu, ich war nach reichlichen Beschimpfungen sehr müde und konnte mich nicht mehr kontrollieren. So riet ich der Frau, ihr Verständnis von Presse- und Meinungsfreiheit zu überdenken. Als Antwort kam: 
"Wenn ich ihre Pressefreiheit angriffen hätte, dann hätte ich es öffentlich getan und nicht über auf diesen Weg. Man sollte auch auf diesem Weg Mensch bleiben."
Wenige Minuten darauf postete sie Artikel und Kommentar sowie ihre Verärgerung in einer rund 5000 Mitglieder starken Facebook-Gruppe, die unter dem Motto "Du bist ein echter [...] wenn..." den Lokalpatriotismus feiern möchte. Schnell reagierten die ersten besorgten Mütter und Väter. Ein paar Auszüge gebe ich hier. Ich kommentiere das nicht weiter, das spricht meistens alles für sich. Ich korrigiere auch keine Rechtschreibfehler.

Insgesamt gingen 192 Kommentare ein, bevor ein Moderator den Beitrag als "geschlossen" erklärte und jeden weiteren dazu löschen ließ. Es ist ein langes Hin und Her. Diejenigen, die pro meines Artikels posteten, fingen sich ihrerseits Sprüche ein. Mag sein, dass im Folgenden Zusammenhänge dieser "Diskussion" fehlen. Meist dreht sich die Sache aber im Kreise - so wie echte Helikopter kurz bevor sie abstürzen. Exemplarisch ein paar der "Kommentare" zum Kommentar wiedergegeben, zeigt sich der Charakter dieser "Diskussion" nach meiner Ansicht aber ausreichend:
"Dieser Journalist hat kein Kind was über diese Straße muß. Uns trifft es auch, ab August. Mein Gefühl ist auch mulmig"
 "Sie hat wahrscheinlich kein Kind um so was zu beurteilen ich platze gleich aber vor Wut , die Sicherheit der Kinder geht vor , nicht nur Ausländer , hallo Deutschland wir haben auch Kinder"
"Nein, wohl gemeinte Kritik ist gwünscht. Aber warum haben unsere Kinder nicht auch eine unbeschwerte Kindheit verdient? Warum müssen wir denn erst an die Öffentlichkeit und bekommen keine Handampel? Warum muss erst was passieren, damit endlich was passiert [...]"
"Halt stopp...Ausländer dahingestellt warum bekommen Ausländer einen Sicheren Fußweg vom Heim bis zur Stadt gebaut damit sie sicher unterwegs sind und unsere Kinder die es bestimmt schlimmer trifft die über eine vielbefahrene Strasse müssen wo selbst der Zebrastreifen ignoriert wird nicht mal ne Handampel....wo steht in unserem Staat kindeswohl gross geschrieben..."
"Wenn ich ehrlich bin geht es mir nicht nur um diese verkehrslage sondern auch darum das schon kinder auf dem weg zum hort von "notgeilen" leuten angesprochen werden..."
"In allererster Linie soll so ein Kommentar in einer Tageszeitung ja immer auch zur Diskussion anregen. Insofern hat in diesem Fall Christine Jakob einen perfekten Job gemacht. So ist dieses Thema voll im Gespräch und wird sicher auch von dem einen oder anderen potentiellen Entscheidungsträger gelesen. [...]"
"Erst einmal vielen Dank für diesen Artikel Christine Jacob. Wunderbar geschrieben. Den Finger, als gute Journalistin, in die richtige Wunde gelegt. Endlich ist wird auch Regional der Focus auf die Erziehungskatastrophe gesetzt!"
"Jetzt verfolge ich das wilde Geschreibsel schon eine geraume Zeit....... Kann jetzt bitte einmal ein Elternteil klar artikulieren und nicht nur Spekulationen und Anfeindungen darbieten?" 
"Hat sich mal jemand die Mühe gemacht, die Zahlen des "gewaltigen Verkehrsaufkommens" herunter zu rechnen? 486 PKW innerhalb zweier Stunden (plus 7 Busse plus 4 Lkw!!!) - Das sind in der Minute gerade einmal vier Fahrzeuge (also 2 pro Minute in jeder Richtung wohlgemerkt - okay: ich habe die 17 Fahrradfahrer vernachlässigt!). Und das bei einer Straße, die man ´nen halben Kilometer in jede Richtung einsehen kann. Ich will nicht polemisch werden. Aber hier scheint mir wirklich über-vorsorglich gedacht zu werden... [...]" 
Dass Menschen, oft mir vollkommen unbekannte Personen, auf meiner Seite waren, gab mir Kraft. Ja, meine Seite! Wenn andere keine Objektivität mehr walten lassen, wird es so subjektiv, dass Lager aufgemacht werden. Denn nicht nur die zum Teil sehr sehr persönlichen und auf Umwegen ausgeteilten Angriffe trafen mich. Ich würde eine Familie beschmutzen, hieß es da unter anderem. Man tat mir ganz persönlich weh.

Dass meine - übrigens ganz bewusst gewählte - Kinderlosigkeit dazu diente, mich in eine Ecke (Stichwort "kalt") zu stecken, war auf die Dauer und aufgrund der Vielzahl verletzend. Viel mehr schockiert mich, was dieser Shitstorm über unsere Gesellschaft, meine kleine Heimatstadt offenbarte. Da wären, um nur ein paar Aspekte zu nennen:
  • bedenkliches Verständnis von Presse und Pressefreiheit (beispielsweise: "unser" Artikel)
  • Alltags- und Rassismus generell (für "deutsche" Kinder)
  • das ungeprüfte Übernehmen einer Behauptung. Nirgends ist - zum Beispiel - bei dieser Facebook-Diskussion eindeutig bewiesen, dass ich tatsächlich kinderlos bin.
  • bedenkliche Einstellung von Frauen nach dem Motto "Ich habe ein Kind gemacht, ich bin also wie Gott und du hast gar nix zu sagen, weil du keine Kinder hast."
  • unsachliche Argumente und Beschimpfungen ("Schlampe", "Ihr gutes Aussehen wird Ihnen nix nützen", "Der Chef muss was mit Ihnen haben, wenn er auf Ihrer Seite ist.")
  • mangelnde Fähigkeit, Sachverhalte ansatzweise abstrakt und als Ganzes zu sehen

Wie hätte man den Kommentar gewertet, wenn ich ein Kind hätte? Wie hätte man den Kommentar gewertet, wenn ich ein Kind an besagter Grundschule hätte? Wie, wenn ich ein Kind hätte, das aber eine andere Grundschule besucht? Ich würde jetzt mal auf Vorwürfe wie "Rabenmutter" tippen ... Was wäre gewesen, hätte einer mal nachgefragt, warum ich keine Kinder habe und ich hätte meine Gründe ins Feld geführt? Und was wäre, wenn ich ein Mann wäre?

Und? Spielt alles keine Rolle ... Was würden sich nun aber diejenigen, die mich beziehungsweise meine Arbeit und Art missbillig(t)en, wundern ... Es gab da diesen einen Moment, da stiegen mir die Tränen in die Augen. Vor Wut, Enttäuschung, Schmerz, Übermüdung, Kraftlosigkeit, der "Schlampe" und dem sich im Kreise drehen und verteidigen müssen bei jedem Gespräch mit diesen Helikoptern und ihrer absurden Auftritte. Ich überlegte für den Bruchteil einer Sekunde, irgendwie zu Kreuze zu kriechen - obwohl ich mich im Recht fühle und nach wie vor 1000 Prozent hinter meinem Kommentar stehe. Ich tat es nicht. Ich kroch nicht. Ich richtete mich auf, schwellte stolz meine Brust und lächelte. "Jetzt erst recht!", sagte ich und halte gegen jeden weiteren Angriff - denn vereinzelt gibt es sie auch zwei Wochen "danach" noch. Wie das? Was ist (mit mir) passiert?

Ganz einfach: Ich, die "kalte kinderlose Schlampe", dachte in dieser seltsamen Sekunde der Schwäche an meine kleine Nichte und all das, was ich ihr vorleben und bedeuten möchte ...

Und so werde ich weitermachen!