Montag, 20. November 2017

Ehrlich sein

"Hm, ich kann momentan nicht versprechen, dass Eure Kinder noch Artikel von mir lesen werden"*, sage ich. Und es fühlt sich richtig und richtig gut an. Gerade hat mich eine 14-Jährige gefragt, ob ich meinen Job bis zur Rente machen möchte. Kann sein, kann anders kommen, sage ich. Und dass ich das so sagen kann, finde ich gut.

Ich bin in diese Klasse von Teenagern gekommen, um gnadenlos ehrlich zu sein. Zu ihnen in erster Linie. Zu mir selbst. Ich finde, dass die Kids das verdient haben. Für einen Monat ist meine Zeitung täglicher Unterrichtsstoff für sie. Und während sie den Autoren des Mathebuchs vermutlich nie in die Finger bekommen - vielleicht besser für denjenigen - dürfen sie mich doch gerne löchern. Das ist der Job. Regelmäßig veranstaltet meine arbeitgebende Zeitung das Projekt an Schulen. Damit soll die Medienkompetenz von der Grundschule an gefördert werden. Das finde ich gut. Medienkompetenz ist wichtig. Aber nicht nur aus diesem Grund mag ich das alles. Im Rahmen des Projekts haben die Schulen die Möglichkeit, sich einen Journalisten einzuladen. Ich lasse mich gerne einladen.

Die richtigen Fragen


Ausnahmsweise stelle nicht ich die Fragen. Ich bekomme sie gestellt. Ich lerne dadurch vielleicht mehr als sie. Nebenbei bringe ich den Schülern bei, was ein Anker und was ein Aufmacher ist, was eine Reportage vom Bericht unterscheidet und worauf es in dem Job ankommt. Die Schüler sind interessiert. Sie machen mit. Die Finger schnepsen immer wieder nach oben. Es werden Notizen gemacht. Es wird gelacht. Sie hören zu. Sie spielen ganz locker mit mir durch, was mit der Ansage "Ab sofort gilt Samstagsschule" alles anzufangen ist und wie wir die gemeinsam von der Nachricht bis zur Reportage umsetzen könnten. Und plötzlich denke ich: "Ach, gucke an, du hast vielleicht noch mehr Talente als nur das eine."**

Tatsächlich habe ich nämlich lange geglaubt, ich könne nur (Lokal)Journalismus. Keine Frage, ich bin ein guter bis oft sogar sehr guter Journalist. Ich kann das. Das Problem ist vielleicht aber mein "Immer schon" auf die Frage des Mädchens vorne links, ob ich das schon immer machen wollte. Ja, immer schon wollte ich das und tatsächlich zählt eine Entscheidung im Alter von 9 bei einem Lebensalter von fast 34 wohl als "immer". Das war gut, es hat mir immer Sicherheit und einen meist sehr deutlichen Fahrplan gegeben.

Nun fragt mich das Mädchen vorne links, ob ich das bis zur Rente machen will und es ist kein Ja zu hören. Eher ein Vielleicht: Ich sage, dass ich es nicht versprechen kann. "Kann ich gar nicht glauben, sie erzählen so schön", sagt sie. Tatsächlich habe ich vorhin von unendlich vielen guten Dingen berichtet. Ich habe unter anderem erzählt, dass ich in meinem Job sogar Dinge verändern kann und Beispiele genannt. Ich habe die Frage nach der wichtigsten Geschichte meines Lebens mit "der über XL" beantwortet und alles ausgepackt. Ich habe von anderen bedeutenden Artikeln erzählt. Ich habe geschwärmt, das alte Kribbeln tauchte wieder auf. Ich habe zehn Jahre Laufbahn an ihnen und vor allem an mir vorbeifliegen lassen. Unglaublich, ich bin noch recht jung und schon ein alter Hase, so lange bin ich dabei.

Gelernt ist gelernt


Ob ich das ewig machen will, weiß ich in dieser Sekunde trotzdem nicht. "Vor fünf Jahren hätte ich noch ganz klar und ohne Zögern Ja gesagt", sage ich dem Mädchen nun, "aber die Dinge ändern sich. Ich sage ja auch nicht Nein." Sie guckt immer noch ein bisschen enttäuscht. "Weißt du, wenn die Bedingungen immer schlechter werden, kommt man schon ins Grübeln." Immer weniger Personal in allen Bereichen vom Sekretariat bis zur Druckerei und immer mehr Aufgaben, generell immer schlechterer Ruf für Journalisten, die freien Kollegen werden nicht fair entlohnt - das Mädchen versteht. "Und außerdem bin ich jetzt in so einem Alter, wo man überhaupt viel grübelt. Ich habe zwar noch ganz gaaanz viel vor im Journalismus, aber ich kann vielleicht auch noch viel mehr als nur das", sage ich und das Mädchen nickt.

Die Glocke läutet zur Pause. Die Schulstunde ist vorbei. Sie tat gut. Es ist lehrreich für beide Seiten, wenn man mal ehrlich ist. Ich erinnere mich wieder. Ich erinnere mich wieder, warum ich als Kind diese Entscheidung getroffen habe und dass sie gut war.

* Doch, das werde klappen, sagt ein anderes Mädchen und weist auf den Jungen auf der letzten Bank, der bereits Vater ist. Das werde ich doch sehr wohl noch schaffen, sogar mit Enkeln. Ist ein Deal, Mädchen!

** Vielleicht sollte ich Volontäre unterrichten, damit die wirklich mal was auf dem Kasten haben.