Samstag, 16. November 2013

XL

Ich habe mir vorhin drei Exemplare meiner eigenen Zeitung gekauft. Eine davon schicke ich meinem großen Bruder, oben in der Ecke steht "Wichtigste Geschichte meiner Laufbahn". Die zweite hebe ich mir gut auf, so dass ich niemals vergessen werde, warum ich meinen Job liebe. Die dritte habe ich noch im Laden mit Knittern geschunden, weil ich ganz schnell rausfinden musste, ob meine Geschichte so geworden ist, wie ich es wollte.

Manchmal hat man als Journalist die großartige Chance eine Geschichte zu schreiben, die größer ist als man selbst - eine Geschichte XL. Erinnern wir uns an die Tage des Hochwassers 2013. Was da in meinen noch ganz amüsant zu lesenden Gedanken zum Juni 2013 nicht steht: in diesen Tagen ist ein Fahrzeug der Feuerwehr in ein Haus gekracht und einer der Feuerwehrmänner wurde so schwer verletzt, dass er fast gestorben wäre. Aber er lebt.

Vor ein paar Wochen war der Feuerwehrmann zu Gast im Stadtrat, weil die Ersatzbeschaffung des Fahrzeugs beschlossen wurde. Als der Oberbürgermeister ihn als jenen Schwerstverletzten outete, beschloss mein Chef: "Die Geschichte holen wir uns, kümmer dich!" Er ist der Chef. Also ging ich zu dem Feuerwehrmann und fragte ihn einem Überfall gleich, ob ich schreiben dürfte und er solle es sich doch überlegen. Ich habe ihm aber, glaube ich, gar keine Visitenkarte von mir gegeben. Grund? Der wurde mir erst ein paar Tage später klar: Ich wollte die Geschichte nicht. Ich wollte die Verantwortung nicht. Die große Verantwortung, dass mir jemand seine Geschichte erzählt und ich sie aufschreiben muss, in der Gefahr diesem Menschen dabei in irgendeiner Form nicht gerecht zu werden oder Schmerzen durch blöde Formulierungen zu bereiten. Ich hatte Angst.

Ein paar Wochen später klingelte mein Dienstapparat und es meldete sich der Feuerwehrmann, dass er die Geschichte mit mir machen wollen würde. Ich legte professionelle Distanz an den Tag und vereinbarte einen Termin mit ihm. Dann legte ich auf und sagte laut "Verdammte Scheiße, verdammt". Auf die Frage meines Kollegen erläuterte ich ihm, wer sich da gemeldet hatte und er sagte nur "Keine Angst, du schaffst das schon!"

Also saß ich eines Nachmittags mit dem Feuerwehrmann da. Er erzählte. Ich hörte zu. Er erzählte, ich beendete Sätze für ihn. Ich fragte. Er erzählte. Zwei Stunden, glaube ich. Ich weiß aber nicht mal, ob er mir all die Dinge, die ich später für ihn aufgeschrieben habe überhaupt richtig gesagt hat. Ich frage mich: Habe ich das alles wirklich gehört? Oder habe ich irgendwie aus seinem Gesicht gelesen?

Habe ich irgendwo in seinem Gesicht gelesen, dass er dankbar ist für all das Schöne in seinem Leben. Dass er fünf Minuten reanimiert werden musste und praktisch tot war - und wie sehr ihn das quält, dass er fast seine Familie im Stich gelassen hätte und gestorben wäre. Dass er sich immer wieder fragt, was wäre wenn? Dass er nicht nach Grund und Sinn dieses Unfalls fragt. Dass er nicht viel weiß vom Unfall. Dass er niemandem die Schuld gibt. Dass er Angst hat vor vielen Dingen. Dass er für seine Kinder sterben würde. Dass er nicht er selbst ist seit diesem Unfall. Dass er sich selbst manchmal ankotzt. Dass er den Unfall aufarbeiten will und gleichzeitig Angst hat, sich an den Unfall erinnern zu können. Dass er sich Hilfe suchen will. Dass er keine Schwäche empfindet, wenn er emotional wird. Dass er einfach Tränen ablassen muss. Habe ich das wirklich gehört?

Irgendwann habe ich das Gespräch praktisch abgewürgt. Ich habe so etwas Blödes wie "Ich hätte dann alles" gesagt und bin gegangen. Warum? Ganz einfach: In mir stieg das dringende Bedürfnis auf, zu weinen.

Aber: Nicht aus Mitleid mit ihm! Nicht aus Wut, wie ich es hier tat und wie ich es die vergangenen Jahren fast ausschließlich konnte - Wut, dass dieser Mist überhaupt passiert ist. Nicht weil ich sauer auf jemanden und verletzt und gekränkt war, so wie ich vor einigen Wochen mal tränenlos wutheulen musste. Ich hätte einfach nur noch richtig und mit offenen Schleusen heulen können, weil ich meine eigene Regel "Große Mädchen weinen nicht!" endlich auch mal brechen wollte. Ich wollte richtig weinen, weil ich erkannte, dass die große Tine-Show so nicht weitergehen muss. Ich war traurig, dass ich so lange nicht stark genug war, vermeintlich schwach zu sein. Ich wollte weinen über die ganze Scheiße, die mir passiert ist, auch wenn sie kleiner ist als die Scheiße, die ihm passiert ist - Arbeitsvertrag futsch, Prozess am Hals, Ehe gescheitert, mein Ex-Mann will mich am liebsten gar nicht mehr in seinem Leben scheint mir, auch sonst will mich niemand - und trotzdem funktioniere ich immer weiter. Auch ein großes Mädchen muss da mal weinen.

Aber wie sollte das gehen? Sagt man da: "Du, dir ist zwar die richtig große Scheiße passiert, aber nimm du doch mal mich in den Arm, weil ich fühle mich grad noch beschissener!"? Also habe ich mir selbst gesagt, that the Tine-Show must go on und bin gegangen.

Dann habe ich zu Hause gesessen und habe mir das Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen lassen - und ich habe geweint. Aber so richtig. Und das tat gut. Aber so richtig.

Am nächsten Morgen bin ich ins Büro, habe den Rechner gestartet, eine CD eingelegt, die Kopfhörer aufgesetzt und habe seine Geschichte aufgeschrieben. 300 Zeilen in drei Stunden. Wie in Trance. Als wär das meine Geschichte. Ist es ja auch - irgendwie. Alles um mich herum und sogar die Musik in meinen Ohren habe ich nur noch so wahrgenommen als hielte ich meinen Kopf in der Badewanne unter Wasser - alles gedämpft, alles weit weg. Ich weiß nur noch, dass mein Kollege die anderen Kollegen nicht mehr ins Büro gelassen hat. Ich weiß auch, dass ich danach dachte, ich müsste mal eine Geschichte machen über falsche Werbeversprechen von wegen wasser- und tränenfeste Mascara.

Ich habe die 300 Zeilen ausgedruckt und einmal gelesen. Ich schäme mich heute sehr dafür, dass ich wieder wütend wurde und in dem Moment des ersten Lesens dachte "Wie kann einer, der so schreiben kann keinen festen Job haben?!" - wie kann man die Geschichte eines so schweren Unfalls und großartigen Menschen in Händen halten und denken, man selbst habe grad mal wieder das größte Problem von allen? Ist das widerlich? Ja! Ist es!

Ich habe dem Feuerwehrmann die Geschichte geschickt und ihm geschrieben, dass er mit seiner Geschichte was in mir, nämlich echte Tränen ausgelöst hat. Stunden später kündete mein Handy eine SMS an und - nennt es meinetwegen Kitsch, ist mir doch egal! - ich wusste ohne auf das Display zu sehen, dass er es ist. Er nannte die Geschichte "überwältigend". Gut. Endlich musste ich nicht mehr allein mit der Geschichte sein und schickte sie zwei Menschen. Unter anderem meinem kleinen Bruder, weil der derjenige war, an den ich voller Sorge und zuerst dachte als der Feuerwehrmann fragte "Was wäre, wenn ich tot bin?"

Wir hörten nichts voneinander. Der Feuerwehrmann schickte mir ein paar Tage später eine E-Mail, ob wir uns noch einmal treffen könnten. Jetzt bekam ich Angst, dass er den ganzen Text umgeschrieben haben möchte vor dem geplanten Erscheinen. Aber als ich zum Treffen kam und ihn sah, war mir plötzlich klar: Alles gut, da muss nix geändert werden. Er hat sich bedankt bei mir.

Ich habe das Layout für die Geschichte gebaut. Auf dem Korrekturausdruck stand in großen Lettern "KEINE Änderung ohne Absprache mit mir!!!" und ich habe peinlich genau kontrolliert, dass auch nix verändert wurde. Heute ist die Geschichte erschienen. Ich bin dankbar, dass ich sie schreiben durfte! Und genau wie in diesem Fall gilt, dass nicht mehr wichtig ist, was andere dazu sagen. Entscheidend ist: Wir, der Feuerwehrmann und ich, sind glücklich mit dem Ende unserer Geschichte.

Denn ich weiß gar nicht, wer hier eigentlich wem geholfen hat. Habe ich ihm geholfen, weil ich aufgeschrieben habe, was er nicht in Worte fassen kann? Hat er mir geholfen, weil ich endlich Gefühle mir selbst gegenüber gezeigt habe? Keine Ahnung!

Ich weiß nur: Ich hoffe sehr, dass ich den Feuerwehrmann eines Tages zufällig beim Bäcker oder im Supermarkt treffe und er mir auf den Kopf zu sagen kann, dass er wieder ganz er selbst und mit sich und seiner Geschichte im Reinen ist. Ich wünsche mir, dass er im besten Sinne ab sofort ein Leben ohne besondere Vorkommnisse führen wird. Ein ganz normales Leben!