"Du bist noch so jung, aber du gehörst zur alten Schule", sagte mein Kollege heute um 16.22 Uhr. Er geht auf die 60 zu, wechselt damit nächstes Jahr in die passive Phase der Altersteilzeit, seine Tochter ging in meine Klasse und macht ihn demnächst zum dreifachen Opa. Gerade stand ich im Besprechungsraum neben seinem Büro und schimpfte über die Jugend von heute, die keinen Sinn für Tugenden habe - dann schüttelte ich abschätzig mit dem Kopf und ereiferte mich noch ein wenig, ein paar Flüche als Garnitur und ferdsch.
Ich (33 Jahre alt) dachte ja der Gipfel sei erreicht, als mich vergangenen Sommer eine junge Frau Anfang 20 zum verabredeten Interviewtermin 21 Minuten warten ließ und dann fröhlich und im vollen Bewusstsein ihres Zuspätkommens erklärte, sie habe noch ein Pokémon jagen müssen.
Vergangene Woche war ich mit einer anderen jungen Frau Anfang 20 zum Gespräch für einen Artikel in einem Café verabredet. Ich saß da und saß und saß, ich trank einen Tee, saß und saß. Meine Miene ward finster. 15 Minuten nach dem angesetzten Termin kontaktierte ich die junge Frau. Hach, sie habe es ganz verschwitzt, sie schaffe es ja aber in einer Stunde - nur da hatte ich schon meinen nächsten Termin und ich kann es nicht leiden, Termine abzusagen, zu verschieben oder zu spät zu kommen. Also verabredete ich einen neuen Termin mit der jungen Frau. Heute 9.30 Uhr wollten wir uns wieder in dem Café treffen. 8.30 Uhr (immerhin!) erhielt ich eine Nachricht, sie schaffe es nicht, weil sie noch - Trommelwirbel und Konfetti - Haare glätten müsse ... Haare glätten ... wichtig, ganz wichtig, einer muss es ja machen ... das ist noch besser als ein Pokémon! Wenn mir ein Arzt erklären würde, er hätte gerade noch eine Operation am offenen Herzen durchführen müssen, ich hätte deutlich weniger Verständnis. Haare glätten dagegen? Hey, also bitte!?!
Sie komme dann später am Tag mal in der Redaktion vorbei, meinte die Frau. Ja! Sehr gut! Genau! Bekanntlich sitzen Journalisten den ganzen Tag im Büro und warten, ob mal wer des Weges kommt und was erzählt. Andere Termine haben sie nicht. Ich schlug also einen Termin um 16 Uhr vor. Sie willigte ein. 16.01 Uhr ... keine Gesprächspartnerin ... 16.15 Uhr keine Gesprächspartnerin ... 16.16 Uhr keine Reaktion auf meine versuchte Kontaktaufnahme ... 16.22 Uhr fiel der Satz "Du bist noch so jung, aber du gehörst zur alten Schule.". Ich weiß nicht, was der Grund für das erneute Zuspätkommen oder besser - nennen wir es doch beim Namen - erneute Versetzen war, die junge Frau meldete sich nicht, es ist mir mittlerweile auch ziemlich wurscht. Ich bin durch mit der Jugend von heute.
Wie gerne denke ich da an den vergangenen Donnerstag. 14 Uhr hatte ich einen Termin mit einem 49-Jährigen. Er war 13.55 Uhr da. Er entschuldigte sich dafür, dass er so zeitig dran sei. Ich sagte, dass mein Opa schon immer "Fünf Minuten vor der Zeit, ist des Soldaten Pünktlichkeit!" sagte und frohlockte.
Ich mag Pünktlichkeit. Und ich höre oft die Stimme meines Großvaters in meinem Kopf. Fünf Minuten vor der Zeit ... Verbindlichkeit. Pünktlichkeit. Ich finde beide super. Sie sind meine Zwänge und ich steh' drauf! Wenn ich im Job merke, dass ich nur 90 Sekunden vor einem Termin da sein kann, dann rufe ich mein späteres Gegenüber am liebsten schon mal an und sage, dass ich vielleicht später komme. Wenn ich wirklich mal ein oder zwei Minuten später komme, weil mir auf dem Weg noch so etwas wie eine Feuerwehr- oder Unfallberichterstattung dazwischen gekommen ist, dann entschuldige ich mich dafür und habe garantiert auf dem Weg versucht, anzurufen und entsprechende Info zu geben.
Dienstlich bin ich so diszipliniert wie privat. Ich bin aus kosmetischen Gründen noch nicht mal zu meiner eigenen Hochzeit zu spät gekommen, die Frisur saß überpünktlich. Wenn ich doch mal zu privaten Terminen zu spät komme, dann liegt es in 99 Prozent der Fälle an meiner Begleitung - und dann bin ich entsprechend sauer auf diese und schimpfe sie für ihr unstrukturiertes Dasein und halte Vorträge zur Organisation und Nulltoleranzpolitik. Ja, ich würde sagen, ich bin ein Pünktlichkeitsnazi! Mir ist daher bis heute peinlich, dass ich - alleinbeteiligt! - neulich zu einer spontanen Verabredung zu einem Spaziergang zirka 40 Sekunden zu spät gekommen bin. Ich entschuldigte mich wortreich und sagte, ich sei von jemandem aufgehalten worden. Pfui, Ausrede! Die Wahrheit ist: Ich hatte mich beim Strukturieren meiner To-do-Liste im Terminkalender verzettelt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen