Freitag, 9. Oktober 2015

Von Brandenburg lernen, heißt chillen lernen

Die Zeitung, für die ich arbeite, hat eine Rubrik namens "Heimat ist..." - da erzählen Leute aus dem gesamten Landkreis, was ihnen ihre Heimat bedeutet und was es für sie ausmacht. Ich frage mich, wie man Heimat eigentlich definiert... Ist es da, wo das Herz ist? Na, dann ist es wohl auch dort, wo man sein Phrasenschwein füttert... Ist Heimat (k)ein Ort? Ist Heimat ein Gefühl?

Ich gehöre zu den Glücklichen, die zwei Heimaten haben. Spätestens als ich mich im Sommer 2013 trennte, fand ich meine große Liebe. Eine schroffe Schönheit, ohne die ich nicht mehr sein kann. Einen echten Hafen. Ich saß etwas planlos, glücklich getrennt und in fiebriger Aufbruchstimmung im Auto und wusste nicht, wohin mit mir - und wohin mit dem Auf- und Ausbruch. Ich rief meinen Bruder an, schilderte kurz die Sache und stand zwei Stunden später in Brandenburg. Heute ist es Das Land, das mir gehört und das Land, wo ich einfach sein kann, mein just B. Die zweite Heimat, die mich bald wieder empfängt.

Als mein großer Bruder vor nun schon fast einem Jahrzehnt mit der damals noch dreiköpfigen Familie in eine Gegend zog, die wirklich am besten im Song "Brandenburg" von Rainald Grebe beschrieben ist, haben wir anderen noch müde gelächelt. Brandenburg. Ausgerechnet Brandenburg. Da ist doch nichts außer Waldmeer, Sandmeer, gar nix mehr? Wie viele Kilometer mein Neffe da bis zur Schule zurücklegen müsste? Die Teenager fahren sich doch dort an Alleebäumen tot? Was macht man in Brandenburg, wenn man alt wird? Drei Stunden bis zum Arzt fahren? Wenn man nicht vorher in die Allee gurkt? In Brandenburg, da soll es doch wieder Wölfe geben?

Wenn ich heute an Brandenburg denke, muss ich immer wieder lächeln. Beseelt. Mein Herz wird weit, wenn ich die Landesgrenze auf dem Hinweg passiere und schwer auf dem Rückweg. Waldmeer, Sandmeer, gar nix mehr. Von Brandenburg und seinen Menschen kann man lernen. Glück kann man lernen. Denn in Brandenburg ist, so jedenfalls mein Empfinden, eine angenehme Wurschtigkeit weit verbreitet. Was soll man auch machen in Brandenburg? 

Wer es sonst nicht schnallt, schnallt es dort, dass Materielles ein Nichts ist. Wenn man zum Beispiel wie mein Bruder mit der inzwischen fünfköpfigen Familie auf einem Grundstück lebt, dessen märkischer Sand es einem ohnehin unmöglich macht, auf clean-grüne Rollrasen-Reihenhaus-Idylle zu machen, lebt man sogleich entspannter. Wenn man eh keinen zuverlässigen Empfang hat, ist das Handy ja auch wurscht. Wenn dir eigentlich permanent der Wildunfall droht, auch deine Karre. Um nur ein paar Beispiele für die Fans äußerer Werte zu nennen...

Für mich ist es natürlich mehr. Reihenhaus und Rollrasen mochte ich eh nie. So leben wie in Brandenburg will ich in meiner Heimat. Ein bisschen wie mein Bruder und seine Familie. Wo - neben vielem anderen - zwei Menschen keine Beziehung führen, sondern Partner sind. Und jeder für sich, alle zusammen in dem tiefen Bewusstsein agieren, dass wirklich alles irgendwie schon gut wird. Bewusst und befreit. Sorg- und achtsam. Selbst nicht sorgenfrei, aber ohne Problemwälzerei oder vor allem das Drehen um die immer gleichen Themen und Menschen, die man eh nicht ändern kann, dem Aufregen über die anderen und die, die einem nicht guttun. Mit einem Schulterzucken für Viele und Vieles, was einem im Leben begegnet - und offenen Armen für die Wichtigen und das Wichtige im Leben. Wo alles und alle gestrichen werden, die einem nicht guttun. Ein bisschen wie ein lebendig gewordener Kalenderspruch - "What's meant to be will be." Loslassend. Einfach ent-spannt. 

Jedes Mal nehme ich mir ein Stück Brandenburger Wurschtigkeit mit nach Hause. Ich brandenburgisiere mich und meine Heimat. Doch wann immer ich nach Brandenburg fahre, nehme ich mir Essen mit. Notfalls gibt's eine Wurscht für die Wölfe.