Donnerstag, 4. Juni 2015

Dürfen wir alles?

Der Presserat hat entschieden. Ich bin enttäuscht. 

Darüber:

"Der Co-Pilot des Germanwings-Flugs 4U9525 durfte nach Ansicht des Deutschen Presserats in den allermeisten Fällen benannt und abgebildet werden.  [...] Zunächst handelte es sich bei dem Germanwings-Unglück nach Ansicht des Presserats um eine außergewöhnlich schwere Tat, die in ihrer Art und Dimension einzigartig ist. Dies spricht für ein überwiegendes öffentliches Interesse an dem Fall insgesamt, jedoch könnte es auch Gründe geben, die dennoch eine Anonymisierung erfordern würden. So könnte z.B. durch die Nennung des Namens des Co-Piloten, seines Wohnortes und der Information, dass er auch im Elternhaus gelebt hat, die Identifizierung der Eltern ermöglicht werden. Aus Sicht des Presserats überwiegt jedoch in diesem außerordentlichen Fall das öffentliche Interesse an der Information über den Täter, soweit es die reine Nennung des Nachnamens betrifft. [...]"*

Zu diesem Ergebnis kamen die Beschwerdeausschüsse des Presserats übrigens nach "intensiven Beratungen" - sie dauerten zwei Tage - über die Beschwerden zur Berichterstattung. Insgesamt sprach der Deutsche Presserat nach eigener Aussage im Zusammenhang mit dem Germanwings-Unglück 2 öffentliche Rügen, 6 Missbilligungen und 9 Hinweise aus. Es lagen 50 Fälle mit 359 Beschwerden vor. Einige Beschwerden seien darüber hinaus nicht behandelt worden, weil sie "allgemeine Medienkritik betrafen oder sich gegen den Rundfunk richteten, für den der Presserat nicht zuständig ist". Insgesamt hatten laut Mitteilung des Presserats 430 Menschen die Berichterstattung beanstandet. Das sei die höchste Zahl an Beschwerden zu einem einzelnen Ereignis seit Gründung der Freiwilligen Selbstkontrolle der Presse. 

Ich könnte darüber meine Selbstkontrolle verlieren. Ich will und werde diesen ganzen Fall jetzt nicht wieder aufrollen. Aber ich möchte polternd und wütend loswerden: Mit Ruhm bekleckert hat sich in diesem Fall kaum ein Medium! 

Ich greife mal nur einen Aspekt von vielen raus, der mich besonders ärgert: In einer Zeit, wo scheinbar alle um unsere Branche herum und auch wir selbst unsere Boulevardisierung heiß diskutieren, (wir) sie uns attestieren und einige viele (angesichts dessen wohl zu recht) den Glauben an uns vollkommen verlieren - in genau so einem Moment haben fast alle Medien genau dies gemacht: Boulevardjournalismus! Richtig sensationsgieriegen Boulevardjournalismus. Und Funk und Fernsehen - ob sie nun Thema beim Presserat sind oder nicht, das ist mir gerade sowas von schnurz - haben bis hin sogar zu den angeblich so integren öffentlich-rechtlichen Instanzen auch noch mitgemacht, mit auf dem Boulevard gestanden... 

Es wäre doch die Gelegenheit für den Presserat gewesen, mal wieder ein paar Sachen in unserem moralischen Kompass zuverlässig in Richtung Norden auszurichten und uns allen eine Belehrung zu verpassen, die sich gewaschen hat ... uns an den Kodex zu erinnern ... zu zeigen, dass auch solch eine Dimension längst nicht unseren derzeitigen Kurs gestattet ...

Doch jetzt sagt unsere oberste "moralische" Instanz, dass es schon mal in Ordnung geht, den vollständigen Namen ohne große Überlegung zu nennen, ja?!? Es ist hinnehmbar, dass die Familie erkannt werden kann?!? Weil das Interesse so groß war?!? Das reicht als Grund, die journalistische Moral und Glaubwürdigkeit - wenn denn noch vorhanden - selbst mit schlechtem Beispiel voran mit Füßen zu treten?!? Echt jetzt?!? Für diesen Fehler bekommt keiner auf die Finger?!? Nicht mal ein bisschen?!?**

Übrigens nennt der Presserat den Co-Pilotennamen dann selbst nochmal. Als hätte man sich gedacht: "Naja, nun ist's auch wurscht." Die Abbildung von Opfern und deren Angehörigen sei jedoch in der Regel unzulässig gewesen, stellen sie fest. "Wenigstens das sehen sie ein", murmle ich da und geh noch eine Runde fluchen, wütend und enttäuscht*** ...

* Siehe am 4. Juni veröffentlichte Pressemitteilung. Auf der Homepage des Presserats könnt Ihr das "Urteil" komplett nachlesen. Es wird dort auf die Veröffentlichung von Opferfotos, der Freundin des Co-Piloten, eine Bild-Kolumne und die Frage der Vorverurteilung eingegangen.

** Ich habe für weniger schon mehr Ärger gekriegt.

*** Auch über die Presse im Allgemeinen.

1 Kommentar:

André Dreilich hat gesagt…

In diesem Zusammenhang habe ich eine neue berufsspezifische Vokabel gelernt. In der Welt führte eine Redakteurin, deren Familie die Arbeit der BILD vor Jahren "erleben durfte", ein Gespräch mit genau dem Fotografen, der seinerzeit private Fotoalben ablichtete usw. Der Job, Betroffene sehr zeitnah, d.h. vor dem Eintreffen von KIT usw., auf- und heimzusuchen, um einen O-Ton und die passenden Fotos zu bekommen, nennt sich im Verlag "Witwenschüttler" ...

PS.: Das Captcha ist immer wieder toll