Kritik gehört zu unserem Job. Man nennt es Blattkritik oder Zeitungseinschätzung, wenn die aktuelle Ausgabe durch einen Kollegen kritisch betrachtet und bewertet wird - nicht nur Rechtschreib- und Tippfehler sollten Erwähnung finden, sondern eben kritisch mit dem großen Ganzen ins Gericht gegangen werden.
Mit Fragen wie diesen: Ist das Layout in Ordnung? Stimmt die Themenauswahl? Sind die Themen gut umgesetzt? Welche Geschichte ist stark und welche schwach? Ist das wirklich ein Seitenfoto oder einfach nur ein großes Foto? Wie geht es anders und besser, das Produkt Zeitung? Die Blattkritik dient also eigentlich dazu, Fehler aufzudecken und sich und das Produkt durch konstruktive Kritik zu verbessern.
Ich melde mich gerne freiwillig zur Blattkritik. Ich habe das schon als Volontär gerne gemacht und nehme bei der Blattkritik - wuhu, Achtung! Wortwitz! - nur äußerst ungern ein Blatt vor den Mund. Was gesagt werden muss, muss gesagt werden. Manchmal hat man so Gedanken, die man einfach artikulieren muss.
Auf dem Jacobsweg der Blattkritik fallen gerne mal Begrifflichkeiten, Stich- und Schimpfworte wie:
"mistig", "beschissenes Layout, echt jetzt", "sieht blöd aus so", "total daneben", "sieht aus wie Kraut und Rüben", "falscher Aufbau", "sinnloser Einstieg, da will man sofort das Lesen wieder einstellen", "ein Einstiegssatz über 14 Zeilen ist Körperverletzung", "wer bei diesem Text nicht einschläft, hatte echt einen Kaffee zu viel", "feinstes Behördendeutsch wie im Amtsblatt - aber das kriege ich wenigstens kostenlos", "die Überschrift hat Kinderbuchniveau, der Text ist noch drunter", "das Bild wäre nicht mal auf zwei Spalten in Ordnung", "pure PR", "habe ich nur gelesen, weil ich musste" oder "laaaaaaaaangweilig" (was nur Simpsonsfans zu belächeln wissen).
Jaaaaaaaaaaaa, verdammt! Diese Herangehensweise ist natürlich grundsätzlich falsch, arrogant, missbilligend, arschlochhaft (ich kann mich selbst nicht leiden) und bei den Kollegen ungefähr so beliebt wie ein PC-Absturz kurz vor Produktionsschluss!
Aber nach mehr als zweijähriger Beobachtungszeit in meiner Lokalredaktion habe ich verschiedene Arten der Blattkritik entdeckt, mit denen wir alle mal auffallen:
- Zur Lage der Nation sprechen: Der Kollege kritisiert nicht Form und Inhalt, journalistische Qualität und Herangehensweise der Ausgabe - sondern versteigt sich in Allgemeines zur kleinen Lokalweltlage. Er kritisiert also lieber die Frisur des Landrats und nicht die Tatsache, dass er auf mindestens drei Fotos aus der Ausgabe grinst. Er kritsiert auch nicht, dass ein Text viel zu zahlenlastig und falsch aufgebaut ist. Nein, er spricht darüber, dass es ja schon immer Ärger mit Sperrmüll gab und sein Nachbar auch immer das Zeug so blöd vor die Tür stellt. Aha! Interessant alles
- Das habe ich gestern schon: Die Kollegin wertet die Ausgabe einzig nach dem Gesichtspunkt, welche Texte sie vor Erscheinen bereits am gestrigen Tage Korrektur gelesen hat. Schön wird das erst recht durch Sätze wie "Da habe ich dir ja gestern schon was dazu gesagt" mit einem Blick zum Kollegen. Das Gesagte bleibt im Rund der Blattkritik unausgesprochen. Auch sehr beliebt ist der Verweis, man habe ja etliche Fehler gestern schon aus dem Text geholt. Der Rest ist Schweigen.
- Da fehlt ein Komma: Die Kollegin/der Kollege beweist Aufmerksamkeit und Fleiß, indem er jedes einzelne vergessene Komma auflistet und sich vor allem auf die Rechtschreibung bezieht. Auch das ist natürlich ein wichtiger Aspekt, solche Fehler sollten ja gar nicht erst passieren - das stimmt natürlich, das sehe sogar ich ein.
- Da war ich beteiligt: Die Kollegin/der Kollege lässt jene Seiten, auf denen er auch nur eine Meldung geschrieben hat, vollkommen aus. Argumentation ist einzig und allein die Tatsache, dass er oder sie ja an der Produktion dieser Seite beteiligt war. So bleibt von sechs bis acht Lokalseiten oft nur eine einzige ausgewertete Seite übrig und der Erkenntnisgewinn ist gleich null.
- Chef nicht kritisieren: Machen fast alle Kollegen - bloß nicht den Chef kritisieren. Im kritischsten Falle werden die Kollegen noch kuschelkritisch und sagen Dinge wie "Na, du hast aber auch immer Stress, da ist das ja nicht schlimm!" Oh, doch! Dem Leser ist egal, wie unser Arbeitsalltag aussieht!